Die Herbsttagung des Vereins für Freikirchenforschung (VFF) am 7. und 8. Oktober im Bildungszentrum Elstal des Bundes Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden in Wustermark bei Potsdam befasste sich mit den Freikirchen während der zwölf Jahre nationalsozialistischer Herrschaft. Diese hätten erst nach dem Ende des Kaiserreiches die rechtliche Gleichstellung mit den Volkskirchen erlangt und seien nun in ihrer Existenz bedroht gewesen. Dabei gehe es im Hinblick auf Schuld „weniger um die Dinge, die getan wurden, sondern um das, was nicht getan wurde“, betonte der 2. Vorsitzende des VFF, Dr. Johannes Hartlapp (Friedensau bei Magdeburg), in seiner Einführung zur Tagung.
Er und Dr. Andreas Liese (Bielefeld) stellten zunächst die Arbeitsweise des Sicherheitsdienstes der SS (SD) und der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) gegenüber den kleinen Religionsgemeinschaften dar. Während die Gestapo für Verbote zuständig gewesen sei, hätte der SD die dafür notwendigen Informationen geliefert. Dabei wäre eine doppelte Strategie verfolgt worden: „Staatsgefährliche“ Sekten sollten vernichtet werden, „harmlose“ Sekten dagegen weiterarbeiten, da sie die Zersplitterung des Christentums förderten. Wobei die Freikirchen zu den „Sekten“ gerechnet worden seien. Allerdings wären die SD- und Gestapo-Mitarbeiter für ihre Aufgaben schlecht ausgebildet gewesen und hätten kaum Sachkenntnisse besessen.
Dr. Christian Neddens (Saarbrücken) beleuchtete die Vorgängerkirchen der heutigen Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche (SELK) zur Zeit des Nationalsozialismus. Es handelte sich dabei unter anderem um die Evangelisch-Lutherische Kirche in Preussen (Altlutheraner), die Evangelisch-Lutherische Freikirche in Sachsen und anderen Staaten sowie um die Renitente Kirche Ungeänderter Augsburger Konfession in Niederhessen. Geprägt von konservativen Milieus der Weimarer Epoche sei die Machtergreifung Hitlers als Rettung vor dem Bolschewismus angesehen worden. Das Kirchenleben wäre nach innen ausgerichtet gewesen. Diese Selbstbezogenheit habe blind gegen die Verfolgung anderer gemacht und die Sorge um die Sicherung der eigenen Existenz zu unnötigen positiven Stellungnahmen zum NS-Staat geführt.
Auch die konservativ ausgerichteten Freien evangelischen Gemeinden hätten aufgrund ihres unpolitischen Verhaltens das „wahre Gesicht Hitlers“ nicht erkannt, so Dr. Andreas Heiser (Dietzhölztal-Ewersbach bei Dillenburg). Die Wiederherstellung von Ordnung, Sitte und Moral sowie die abgewendete Gefahr des Bolschewismus habe den Blick für die Gefährlichkeit des Nationalsozialismus verstellt.
Die Neuapostolische Kirche habe während der NS-Zeit ebenfalls eine Überlebensstrategie entwickelt, stellte Matthias Eberle (Bielefeld) fest. Etliche leitende Geistliche, auch Apostel, seien nach 1933 der NSDAP beigetreten. Es wäre zu einer weitgehenden Anpassung an den NS-Staat gekommen, um einem drohenden Verbot zu entgehen. „Es ist jedoch nicht erwiesen, dass wirklich alle Handlungen der neuapostolischen Kirchenleitung in dieser Zeit lediglich Reaktionen auf konkrete oder abstrakte Forderungen von Staat und Partei waren“, so Eberle. Eine kritische Reflexion der NS-Zeit durch die Neuapostolische Kirche stehe noch aus. Es gebe bis jetzt auch kein Schuldbekenntnis.
Dr. Johannes Hartlapp stellte anschliessend die Beziehungen von kleinen Religionsgemeinschaften zu Institutionen des NS-Staates am Beispiel der Siebenten-Tags-Adventisten dar. Im Dezember 1933 sei die Freikirche in Preussen und Hessen verboten worden. Zwar wäre das Verbot nach zehn Tagen wieder aufgehoben worden, doch habe es eine totale Verunsicherung bei den Adventisten bewirkt, „sodass es keine offene Kritik mehr am NS-Staat gab“. Nach Aufhebung des Verbots habe besonders Hulda Jost, die Leiterin des Advent-Wohlfahrtwerkes, eine bedeutende Rolle gespielt. Durch ihre vielen persönlichen Kontakte hätte sie den Behördenweg umgangen und mit Erfolg Fürsprecher für bestimmte Anliegen gefunden. Es sei ihr gelungen, die adventistischen Gemeinden zu vielfältigen sozialen Tätigkeiten zu bewegen, um sie für den NS-Staat „unverzichtbar“ zu machen. Trotz ihrer vielen Kontakte habe es aber auch Rückschläge gegeben, wie die Aufhebung der Schulbefreiung für adventistische Kinder am Samstag und die Entlassung adventistischer Beamter aus dem Staatsdienst im Jahr 1936. „Daran konnte auch sie nichts ändern.“
In seinem Forschungsbericht ging Elmar Spohn (Waiblingen) auf die evangelischen Glaubens- und Gemeinschaftsmissionen in der Zeit des Nationalsozialismus ein. Es habe sich dabei um Werke gehandelt, die sich selbst heute als „evangelikal“ bezeichneten. Davon habe es im NS-Staat 16 gegeben, wie Allianz-China-Mission (heute Allianz-Mission), Christoffel Blindenmission, Missionsbund Licht im Osten, Liebenzeller Mission oder Mission für Süd-Ost-Europa. Laut Spohn sei keine einheitliche Darstellung möglich, da es bereits in den einzelnen Missionsgesellschaften unterschiedliche Haltungen zum NS-Staat gegeben habe. „Es gab NS-Befürworter, Mitläufer, Neutrale, Resistente, aber vereinzelt auch Widerstand durch Einsatz für Juden und Mitarbeiter, die selbst Opfer wurden.“ Die Missionen hätten sich nach 1945 sehr schwer mit der Schuldfrage getan.
Mit „Pfingstler in der Zeit des Nationalsozialismus“ legte Sven Brenner (Heidelberg) einen weiteren Forschungsbericht vor. Auch hier müssten die einzelnen Pfingstgruppen differenziert betrachtet werden. „Manche wurden verboten und die Mitglieder trafen sich im Geheimen.“ Hermann Lauster, Gründer der Gemeinde Gottes in Deutschland, habe sich zeitweise im KZ befunden. Die Volksmission entschiedener Christen von Karl Fix sei von der Gestapo zwar überwacht, wäre aber nicht als Pfingstgemeinde angesehen worden, da es geordnete Gottesdienste gegeben habe. Heinrich Vietheer, Gründer der Elim-Gemeinden, habe seine positive Einstellung zum NS-Staat verteidigt. Dennoch hätten sich seine Gemeinden 1938 dem Bund der Baptistengemeinden anschliessen müssen. Der Christliche Gemeinschaftsverband Mülheim an der Ruhr sei der Meinung gewesen, dass ein wahrer Christ der Obrigkeit zu gehorchen habe. In seiner Gemeindezeitschrift „Heilszeugnisse“ sei damals die Sprachregelung der NS-Ideologie zu finden gewesen.
Zum Abschluss der Tagung befasste sich Dr. Andreas Liese mit der Reise des Vorsitzenden der Vereinigung Evangelischer Freikirchen (VEF), Heinrich Wiesemann, 1938 nach Schweden, um darzulegen, wie die Deutsche Kongress Zentrale (DKV), die seit Ende 1936 dem Propagandaministerium untergeordnet war, ganz gezielt kirchliche Vertreter benutzt habe, um die Interessen Deutschlands im Ausland zu vertreten. Jeder, der eine Auslandsreise zu einem Kongress oder einer ähnlichen Veranstaltung beantragen wollte, sei im Zusammenhang mit der Beantragung von Devisen von der DKV unterrichtet worden, in welcher Weise er sich im Ausland zu verhalten, wie er mit ausländischen Pressevertretern umzugehen und in welcher Weise er Deutschland zu repräsentieren habe. Nach der Rückkehr hätte ein Bericht verfassen werden müssen, der dann über die DKV an den Sicherheitsdienst (SD) weitergeleitet worden sei. Wiesemann habe sich nun nicht nur an diese Richtlinien gehalten, sondern im Kontakt mit dem schwedischen Diplomaten Lagerkranz gleichzeitig versucht, politischen Einfluss auf Schweden im Sinne des NS-Staates zu nehmen.
Die in Elstal gehaltenen Referate werden im VFF-Jahrbuch dokumentiert, das 2012 erscheinen soll.