Die weltweit kritisierte Beschränkung der Rechte des ungarischen Verfassungsgerichtshofs durch die rechtskonservative Regierungsmehrheit habe zu einem Eklat im Verhältnis mit der zweitstärksten Kirche des Landes geführt, berichtete Kathpress. Die ungarische Regierung habe vor sechs Wochen trotz heftiger internationaler Kritik und Protesten die Verfassung geändert, wodurch die Kompetenzen des Verfassungsgerichts beschnitten und mehrere vom Verfassungsgerichtshof gekippte Gesetze in den Verfassungsrang erhoben worden seien, darunter die Vergabe des Status als Kirchen an religiöse Gemeinschaften durch das Parlament.
Innerhalb der anerkannten Kirchen sei das Vorgehen stark diskutiert worden. Am 25. April sei der Bischof der Evangelisch-Reformierten Kirche, Gusztav Bölcskei, überraschend an die Öffentlichkeit getreten. Er habe erklärt, dass er sich nicht mehr in der Lage sehe, an weiteren Verhandlungen über ein neues Kirchengesetz teilzunehmen. Die jüngsten Vorschläge der Regierung beinhalteten „krasse Widersprüche“ und verfestigten die „Ungleichbehandlung.“
In Ungarn regiert seit dem Frühjahr 2010 ein Wahlbündnis aus Fidesz und KDNP (Christlich-Demokratische Volkspartei) mit Zweidrittelmehrheit. Am 29. Mai 2010 wählte das neue Parlament Viktor Orban zum neuen Ministerpräsidenten. Im April 2011 wurde mit den Fidesz-Stimmen die neue Verfassung verabschiedet, in deren Präambel unter anderem ein Bekenntnis zu Gott, zur (Stephans-)Krone und zu Vaterland, Christentum, Familie und Nationalstolz formuliert ist. Der offizielle Staatsname wurde von Republik Ungarn in Ungarn geändert. Laut Kathpress habe Orban die Kirchen mit diesen Punkten bisher im Wesentlichen auf seine Seite ziehen können. Doch zeichne sich nach der jetzigen Distanzierung eines massgeblichen Kirchenführers offenbar eine Abkühlung ab.
Laut Kathpress habe Ende Februar das - mittlerweile weitgehend entmachtete - Verfassungsgericht das Kirchengesetz bereits zum zweiten Mal seit 2011 ausser Kraft gesetzt. Die Richter begründeten ihr Urteil damit, dass das vom Parlament mit Zweidrittelmehrheit angenommene Gesetz den um Anerkennung ansuchenden Glaubensgemeinschaften den Weg versperre, gegen einen Beschluss in Berufung zu gehen. Denn den Gemeinschaften werde nicht mitgeteilt, warum sie den Status „staatlich anerkannte Religionsgemeinschaft“ nicht erhielten; folglich könnten sie das Urteil auch nicht anfechten.
Anerkennung bleibt politische Angelegenheit
Die Status-Zuerkennung bleibe - auch in der Novelle und im aktuellen Entwurf - immer eine politische Entscheidung der Volksvertreter. Laut Gesetz werde die Status-Zuerkennung im Parlament entschieden. Europaweit sei diese Verfahrensweise einzigartig. Der für Kirchen zuständige Stellvertretende Staatssekretär György Hölvenyi habe allerdings erklärt – allerdings noch vor der „Entmachtung“ des Verfassungsgerichts, dass „verfahrensrechtliche Unzulänglichkeiten bei der Anerkennung der Kirchen mit der entsprechenden Novellierung des Gesetzes behoben werden."
Bedingungen für "etablierten Kirchen"
Eine Novellierung zum Kirchengesetz wurde nach Angaben von Kathpress vor kurzem von Kultusminister Zoltan Balog im Parlament eingereicht. Demnach könne eine Gemeinschaft zur sogenannten „etablierten Kirche“ erklärt werden, die mindestens auf eine einhundertjährige internationale Tätigkeit verweisen könne oder in Ungarn seit 20 Jahren organisiert und tätig sei. Die Mindestzahl der Kirchenangehörigen müsse 10.000 Gläubige erreichen. Neu in der Modifizierung sei, dass Religionsgesellschaften und -gemeinschaften künftig bei Gerichten registriert würden, wenn auch die Anerkennung der „etablierten Kirchen“ nach wie vor zur Kompetenz des Parlaments gehören werde.
Experten meinen, die Regierung habe zwar einige Minen entfernt, aber dafür neue gelegt. So sei zum Beispiel offen, woher der ungarische Staat exakt wissen könne, wie viele Angehörige die jeweilige Kirche habe, wo doch diesbezüglich Angaben unter strengen Datenschutz fielen und demzufolge die Gemeinschaften nicht verpflichtet werden könnten, diese Listen zu veröffentlichen.
Kritiker sehen Willkür
Auch die willkürliche Einstufung der Gemeinschaften gelte als überaus problematisch, so Kathpress. Im Februar hätte Hölvenyi zwar erklärt, der Staat respektiere „die volle Autonomie der Kirchen und Religionsvereine.“ Ganz im Gegensatz dazu stehe laut Kritikern allerdings die Erwartung seitens der Regierung, dass die Kirchen bereit sein müssten, „im Interesse gemeinschaftlicher Ziele“ mit dem Staat zu kooperieren. Der Verfassungsrechtler Daniel Karsai halte das für eine Absurdität. Denn damit könne die Regierung nach Belieben jeder Organisation den kirchlichen Status aberkennen.
UN-Menschenrechtskommission kritisiert Verfassungsänderungen
Auch die UN-Menschenrechtskommission hat vor kurzem die Verfassungsänderungen in Ungarn scharf kritisiert. Die Massnahmen seien ein Schlag gegen die Unabhängigkeit des Justizsystems des Landes, erklärte der Sprecher Rupert Colville in Genf. Die Änderungen seien ohne angemessene öffentliche Diskussion erfolgt, die Inhalte könnten „tiefgreifende Auswirkungen auf die Wahrnehmung der Menschenrechte durch das ungarische Volk“ nach sich ziehen. Bedroht seien „die Unabhängigkeit der Justiz, die Autorität und Rechtsprechung des Verfassungsgerichts“ und „der Rechtsstaat an sich.“
Vertragsverletzungsverfahren droht
Mittlerweile drohe Ungarn ein Vertragsverletzungsverfahren der EU-Kommission. Die für Justiz zuständige EU-Kommissarin Viviane Reding erklärte laut Kathpress am 24. April in Brüssel, es werde an einer sorgfältigen rechtlichen Analyse der Lage in Ungarn gearbeitet „und wahrscheinlich wird es ein Verstossverfahren geben - und zwar schon ziemlich bald.“