Rezension / 08.05.2017 Heiner Geissler, Kann man noch Christ sein, wenn man an Gott zweifeln muss? Fragen zum Lutherjahr, Ullstein Verlag, 2017, 80 Seiten, Hardcover, € 7, ISBN-13 9783550050060
Der frühere Generalsekretär der Christlich-Demokratischen Union Deutschlands und ehemalige Bundesfamilienminister Heiner Geissler lässt im Alter von 87 Jahren nichts von seiner gedanklichen Prägnanz und seinem ethischen Scharfsinn missen. Davon zeugt seine jüngste Veröffentlichung mit dem Titel „Kann man noch Christ sein, wenn man an Gott zweifeln muss?“, mit der er auf 80 Seiten „Fragen zum Lutherjahr“ stellt, wie es der Untertitel präzisiert.
Der Bezug zum Reformationsjubiläum ist in Geisslers Buch durchgehend präsent. Nichtsdestotrotz reibt sich Geissler an grundlegenden Fragen des menschlichen Miteinanders, die unabhängig vom Lutherjahr nach einer Klärung verlangen. Sein mahnendes Wort richtet Geissler an diejenigen, die in der Gefahr stehen, sich in einer selbstbezüglichen Kirche zu verlieren, ohne die akuten Probleme der Welt in den Blick zu nehmen. Auf jeder Seite des Buches ist die brennende Leidenschaft des Autors wahrnehmbar, sich nicht mit dem Ist-Zustand der Wirklichkeit zufrieden zu geben, sondern auf dem Weg der Gerechtigkeit voranzugehen.
Als ehemaliger Jesuit nimmt Geissler die christliche Theologie in die Pflicht. Er spitzt die alte Theodizee-Frage zu und verlangt nach einer Antwort: Wie kann man von einem gnädigen, barmherzigen und allmächtigen Gott sprechen angesichts des unfassbaren Ausmasses von Gewalt, Leid und Ungerechtigkeit in der Welt? Zugespitzt gefragt: Lässt die Realität der Welt zu, dass es einen solchen Gott gibt, oder muss der Zweifel überwiegen?
Geissler bleibt nicht bei dieser Frage stehen, als würde sie erstmals gestellt werden. Stattdessen setzt sich der Autor mit klassischen Antworten auseinander, die denkende Christinnen und Christen auf diese Frage gegeben haben. Dabei tritt Geissler acht möglichen Antwortversuchen entschieden entgegen:
1. Leiden ist eine Strafe für die Sünden
Für manche Mitglieder der Tea-Party seien „Tsunamis nicht die Folge von tektonischen Plattenverschiebungen, sondern … Folgen vom Feiern, Zechen und Tanzen in Kneipen und Bars bis hin zu Übertretungen irgendwelcher alberner Sabbatvorschriften.“ Doch was für ein Gottesbild komme damit zum Ausdruck? Es würde bedeuten, dass Gott selbst in die Gestalt des Ko-Piloten der German Wings Maschine getreten sei, um die Maschine in den Alpen zerschellen zu lassen. An einen solchen Gott möchte man nicht glauben.
2. Die Leiden sind von Gott geschickt
Für diese Sichtweise nimmt Geissler auch Luther in Mithaftung. Der Reformator habe bei der Pest in Wittenberg 1527 seinen Mitmenschen gepredigt, die Seuche als „Gottes Geschick“, als Strafe und Prüfung anzunehmen. Zu Recht weist Geissler auf die Begegnung von Jesus und dem Blinden hin. Als Jesus gefragt wurde, aufgrund wessen Sünde der Mann blind geboren sei, habe Jesus schlicht und ergreifend geantwortet: Niemand sei schuld. Stattdessen habe Jesus den Blinden geheilt, „zum grossen Ärger der Pharisäer sogar am Sabbat.“ Unheil aufgrund von Sünden von irgendjemand zurückzuführen, sei deshalb eine Art Gotteslästerung. Demgegenüber werde es Geissler „warm uns Herz, wenn man an Jesus denkt.“
3. Gott nach dem Leid zu fragen (Rechtfertigung Gottes), ist eine Anmassung des Menschen
Auch bei dieser Antwort bringt Geissler Luther ins Spiel. Der Reformator habe es als Blasphemie bezeichnet, Gott nach dem Grund von Leid zu fragen. Geissler übt daran Grundsatzkritik: „Luthers Gott solidarisiert sich nicht wie Jesus mit dem Leid der Menschen, sondern lässt sie darin allein.“ Das sei nur ein illegitimer Versuch, dass man „die Klappe halten“ und „keine dummen Fragen stellen“ solle. Diese Antwort wäre eine Entmündigung des Menschen.
4. Gott will geliebt werden, dies setzt aber den freien Willen des Menschen voraus, auch das Böse zu tun. Ohne das Böse gibt es keinen freien Willen
Hier erkennt Geissler die „raffinierteste Erfindung der Theologie“: Gott wolle geliebt werden. Aber was solle man von dieser erwünschten Liebe Gottes halten, wenn dafür Ungeheuerlichkeiten wie Auschwitz oder „Terrorakte mit schweren Lkws in Nizza und auf einem Berliner Weihnachtsmarkt“ in Kauf genommen würden? Wenn das so ist, würde Geissler gern seine „‚Eintrittskarte‘ in die Schöpfung zurückgeben“.
5. Nicht Gott verursacht das Leid, sondern Hitler, Pol Pot, Assad, Psychopathen und Sadisten
Wenn man die Schuld beim Menschen verortet, würde Gott entlastet. Doch Geissler fragt zurück: „Woher kommt das, wer hat es ermöglicht, dass Menschen so veranlagt sind“? Geissler bedient sich des Verursacherprinzips und nimmt Gott in Mithaftung. Denn schliesslich habe niemand anderes als Gott es ermöglicht, dass es solche Menschen gibt, die zu Gewalt fähig sind.
6. Leid wird verursacht durch den Teufel, Hexen, Zauberei
Erneut legt Geissler den Zeigefinger auf eine dunkle Stelle der Reformation. Denn auch Luther habe „Hexen“ für schlechtes Wetter verantwortlich gemacht. Doch Menschen mit dem Bösen schlechthin zu assoziieren, könne eine gefährliche Gewaltorgie auslösen und schüre zudem gewaltige Ängste. Geissler halte es lieber mit Origenes. Der Kirchenvater sei deshalb nie heiliggesprochen worden, weil in seinem Glaubensbild für Teufel und Hölle kein Platz gewesen sei.
7. Gott handelt, wie er will
Wenn Gott alles so mache, wie er es eben haben wolle, dann sei das Willkür. Die Gerechtigkeit Gottes bliebe auf der Strecke, weil Gott unberechenbar wäre.
8. Gott sei Lob und Preis
„…während auf der Welt ununterbrochen gefoltert und gemordet wird, [wird] Gott in den höchsten Tönen [von den Liedern der Christen] gepriesen. […] Egal ob Krieg, Folter, Krebs oder Erdbeben mit Tsunamis – die Christenheit betet, singt, lobt und preist und ‚dankt dem Herrn; denn er ist gut und seine Güte währet ewiglich‘ (Ps 118).“ Eine immer nur lobsingende Christenheit würde den Bezug zur Wirklichkeit verlieren. Geissler lässt hier leider unerwähnt, dass die biblische Tradition nicht nur das Gotteslob, sondern auch die Klage kennt, sogar die Anklage Gottes.
Mit dem Zweifel leben
Weil die Welt so ist, wie sie ist, kann man an Gott zweifeln. Geissler zweifelt an Gott, weil er mit den leidenden Menschen empathisch ist. Im Mitgefühl mit den leidenden Menschen findet Geissler einen starken Verbündeten: Jesus von Nazareth. „Er hat der Nächstenliebe, das heisst der Solidarität unter den Menschen, denselben Rang gegeben wie die Gottesliebe.“ Hier erblickt Geissler den Sinn des menschlichen Lebens: Dasein für den Nächsten, wenn er in Not ist, selbst wenn es sich um den Feind handelt. Geissler bekräftigt das mit dezenter Ironie: „Nächstenliebe ist eine Pflicht. Neoliberale und die selige Maggie Thatcher, die im letzten Fünftel ihres Lebens gefüttert werden musste, nannten sie Gefühlsduselei und Gutmenschentum. Aber erst Nächstenliebe und solidarisches Handeln geben dem menschlichen Leben einen Sinn.“ Wenn wir uns für ein besseres Leben einsetzten, sei der Zweifel auszuhalten, ob es wirklich ein „zweites Leben“ gebe. Geissler appelliert, „all das zu tun, was Gott offensichtlich nicht tut, aber tun müsste, wenn es ihn gäbe“. Als Beispiele benennt er „Schmerzen lindern, Diktatoren bekämpfen, Folterer bestrafen“.
Mit Verweis auf die Endzeitrede Jesu reklamiert Geissler, dass das Zentrum des Glaubens nicht Liturgie und Kirchenmusik bildeten, sondern die Gottesliebe, die sich in der Nächstenliebe zeige. Den Hunger bekämpfen, allen Menschen Trinkwasser verschaffen, Obdachlosen eine Wohnung geben, Flüchtlinge aufnehmen, den Frierenden Kleidung geben, Kranke pflegen und Gefangene betreuen – das seien die Forderungen Jesu an diejenigen, die zum Reich Gottes gehören wollten.
In Anlehnung an Jesus von Nazareth formuliert Geissler einen Aufruf zur Busse und zur Umkehr. In dieser Perspektive sind für Geissler die grundlegenden Zweifel an Gott zwar nicht widerlegt, aber aufgehoben und auszuhalten. Jesus von Nazareth stelle „heute wie damals die herrschenden Werte und Massstäbe auf den Kopf. Ihm und seiner Botschaft können wir glauben.“
„Kann man noch Christ sein, wenn man an Gott zweifeln muss?“ Bei der Lektüre des Buches vernimmt der Leser eine Antwort: Man kann, indem man versucht, sich selbst so zu verhalten, wie man es von Gott erwarten würde. So, wie es Jesus von Nazareth tat. Und zweifeln bleibt erlaubt.
Dietmar Päschel, Berlin