Buchrezension: «Demokratie in unruhigen Zeiten» © Foto: pexels/pixabay.com

Buchrezension: «Demokratie in unruhigen Zeiten»

Ostfildern/Deutschland | 24.12.2018 | APD | Buchrezensionen

Sebastian Liebold/Tom Mannewitz/Madeleine Petschke/Tom Thieme (Hrsg.), Demokratie in unruhigen Zeiten, Festschrift für Eckhard Jesse, Baden-Baden: Nomos 2018, 474 Seiten, gebunden, 98 Euro, ISBN 978-3-8487-4194-6

Bei dem zu besprechenden Werk handelt es sich um eine Festschrift, die anlässlich des 70. Geburtstags von Professor Dr. Eckhard Jesse erschienen ist. Der Jubilar gilt als führender Extremismusforscher in Deutschland und war von 1993 bis 2014 Inhaber des Lehrstuhls „Politische Systeme, Politische Institutionen“ an der Technischen Universität Chemnitz. Herausgeber und Beitragende stammen aus dem Kreis der akademischen Schüler Jesses, der bis dato 92 Dissertationen und 5 Habilitationsschriften (auch als Zweitgutachter) betreut hat.

Aufbau und Inhalt
Zur umfassenden Festschrift „Demokratie in unruhigen Zeiten“ (insgesamt nahezu 500 Seiten!) haben neben den vier Herausgebenden weitere 36 Schüler Jesses beigetragen. Allein diese Tatsache zeigt, dass sich der Inhalt des Bandes nicht auf einen einzigen Nenner bringen lässt, zu unterschiedlich sind die behandelten Themen. Dennoch haben die Herausgebenden versucht, sie in fünf grosse Abschnitte zu gliedern: „Zeit- und Ideengeschichte“ (S. 33-128), „Extremismus in Deutschland“ (S. 129-250), „Gesellschaftlicher Zusammenhalt“ (S. 251-329), „Repräsentation und Partizipation“ (S. 331-396) sowie „Deutschland und Europa“ (S. 397-464). Der Band wird eingeleitet durch „Einführende Überlegungen“ seitens der Herausgebenden. Ein „Verzeichnis der abgeschlossenen Habilitationen und Promotionen bei Eckhard Jesse“ sowie ein „Autorenverzeichnis“ schliessen die Festschrift ab.

In ihren einführenden Überlegungen (S. 9-32) gehen Sebastian Liebold, Tom Mannewitz, Madeleine Petschke und Tom Thieme unter anderem der Frage nach, ob man von einer durch den Jubilar gegründeten „Chemnitzer Schule der Politikwissenschaft“ sprechen kann. Die Autoren der Festschrift waren aufgefordert, einen Aufsatz „beizusteuern, der Anknüpfungspunkte zu den ‚Steckenpferden‘ von Eckhard Jesse ermöglicht“ (S. 28).

1. Zeit- und Ideengeschichte
In seinem Beitrag „Als die Totalitarismustheorie das Laufen lernte“ zeichnet Helmut Müller-Enbergs die Etablierung der Totalitarismustheorie in den Vereinigten Staaten der 1950er Jahre nach. Gerahmt durch Wirken und Person von Henry Kissinger (geb. 1923) wird der Zusammenhang von DDR und Totalitarismus untersucht. Alexander Gallus beschreibt „Drei Lebenswege zwischen intellektueller ‚Hochbegabung‘, politischer Radikalität und terroristischer Gewalt - Ulrike Meinhof, Gudrun Ensslin, Horst Mahler und die ‚Studienstiftung des deutschen Volkes‘“. Michael Ploenus befasst sich mit dem Publizisten und Vordenker der deutschen „Neuen Rechten“, Armin Mohler (1920-2003). Isabelle-Christine Panreck schreibt über die Studentenunruhen an der Universität Tübingen Ende der 1960er Jahre. Noch weiter zurück schaut Andreas Morgenstern in seinem regionalhistorischen Text über die Zerwürfnisse der Jahre 1917-1919 im Städtchen Schiltach mitten im Schwarzwald. Tobias Wunschik beschreibt das zwiespältige Verhältnis der Staatssicherheit der DDR zum venezolanischen PLO-Terroristen Carlos (Illich Ramirez Sánchez). Steffi Lehmann widmet sich der Frage, welche Ursachen den Rechtsextremismus in den neuen Bundesländern begünstigt haben. Katja Eddel wirft in ihrem Beitrag „Japan und der Linksterrorismus der Roten Armee“ einen Blick über den deutschen Tellerrand hinaus. Der erste Teil der Festschrift wird abgeschlossen durch zehn Thesen, die Hans-Georg Golz zur politischen Bildung nach der deutschen Wiedervereinigung aufstellt.

2. Extremismus in Deutschland
Julia Gerlach ergründet in ihrem Beitrag „Neue Herausforderungen und streitbare Demokratie“ das Spannungsverhältnis von Freiheit und Sicherheit im Rahmen des Demokratieschutzes. Dieser ist nach Meinung der Autorin „ein kontinuierlicher und responsiver, wenn gleich nicht gradueller politischer Aushandlungsprozess“ (S. 131). Um das „Sicherheitsempfinden in unsicheren Zeiten“ geht es Tom Thieme in seinem Text zum Verhältnis von objektiver und subjektiver Sicherheit. Auf den Beitrag von Ralf Grünke wird weiter unten näher eingegangen. Im Aufsatz „Auf Messers Schneide“ beschreibt Birgit Rätsch die gescheiterten Versuche, die NPD im Rahmen eines Verbotsverfahrens loszuwerden. Florian Hartleb untersucht in seiner Analyse „Der Fall Anis Amri“ sowohl den Anschlag auf dem Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplatz 2016 als auch das entsprechende Behördenversagen. Jürgen P. Lang beschäftigt sich mit der historischen Entwicklung von Verschwörungsideologien, Fabian Fischer in „Identität, Gemeinschaft und dunkle Mächte“ mit der Rolle und Funktion von Feindbildern im politischen Extremismus. Auf den Beitrag von Evelyn Bokler-Völkel wird ebenfalls am Ende der Rezension näher eingegangen. Sebastian Gräfe geht den Kommunikationsstrategien im Bereich des Rechtsterrorismus anhand eines „Vergleichs von sechs Gruppen aus fünf Jahrzehnten“ nach. Am Ende des zweiten Abschnitts stehen die Texte von Andreas Schulze „Rechtsextremismus in sozialen Netzwerken“ sowie von Andreas M. Vollmer „Reichsbürger und Selbstverwalter - funkelnde Sterne am Extremismus-Himmel“.

3. Gesellschaftlicher Zusammenhalt
Gunter Gerick wirft in seinem Beitrag „Stürmische Zeiten“ einen „Blick auf die politische Grosswetterlage“ (S. 253). Die Notwendigkeit einer offenen Auseinandersetzung betont Alexander Löcher unter dem Titel „Pegida: Eine vertane Chance für unsere Demokratie“: „Insbesondere kritische, national-konservative Meinungen und Sichtweisen finden sich kaum in den redaktionellen Print-Medien, im Rundfunk oder Fernsehen, dafür umso mehr im Internet. Und hier liegt das Problem“ (S. 272). Tom Mannewitz stellt den „Wettbewerbsstrategien gegenüber Rechtsextremisten und –populisten“ (Ignorieren, Kopieren, Zusammenarbeiten, Ausgrenzen und Entgegnen) eine Alternative zur Seite: „die offensive und fortwährende Dekonstruktion der Forderungen von Rechtsaussenparteien“ (S. 284). Ulrike Klötzing-Madest nimmt sich unter der Fragestellung „Wieviel Gefühl braucht Demokratie?“ des Stellenwerts von Emotionen in der Politik an. Um Psychologie beziehungsweise „Psychopathen“ geht es im Beitrag von Farah Dustdar: „Je mehr die Wähler Erkenntnisse über menschliche Verhaltensweisen gewinnen, desto besser können sie sich und ihren zukünftigen Repräsentanten, d. h. politische Kandidaten, verstehen und erkennbarem Fehlverhalten im Rahmen ihrer Möglichkeiten konstruktiv entgegenwirken“ (S. 307). Die beiden letzten Beiträge des Abschnitts behandeln Aspekte der deutschen Erinnerungskultur: Andreas H. Apelt beschreibt Idee und Umsetzung des Freiheits- und Einheitsdenkmals in Berlin, Sebastian Prinz die Geschichte des Tages des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus im Deutschen Bundestag.

4. Repräsentation und Partizipation
Für Bastian Scholz wäre die „Jamaika“-Koalition nach der letzten Bundestagswahl ein „Befreiungsschlag eines erstarrten Regierungssystems“ gewesen. Scholz wagt aufgrund dessen „eine Prognose der deutschen Koalitionsdemokratie 2021“. „Mehr Frauen braucht das Land“ – davon ist Christian Steg überzeugt und plädiert für ein Paritätsgesetz zur gleichberechtigten Beteiligung beider Geschlechter an der Politik. Für mehr Bürgerbeteiligung spricht sich Peter Patze-Diordiychuk aus. Dazu könnten beispielsweise „Bürgeranträge, Bürgerversammlungen, Bauleitplanungs- und Planfeststellungsverfahren“ verhelfen. Viola Neu befasst sich in ihrem Beitrag mit „Prognosen und Meinungsforschung“. Sebastian Hadamitzky setzt sich kritisch mit der Online-Wahlhilfe „Wahl-O-Mat“ auseinander. Abgeschlossen wird der vierte Abschnitt mit einem Beitrag von Andreas Wagener, der sich mit Chancen und Risiken einer „Digitalisierung der Politik“ am Beispiel der „libertären Technologie der Blockchain“ befasst.

5. Deutschland und Europa
Udo Baron beschäftigt sich mit dem „Spannungsverhältnis zwischen liberaler Demokratie und Populismus“ in Europa. Julia Heydemann entwirft eine Zukunftsvision für die EU, die sie allerdings pessimistisch ausklingen lässt: „Die wunderliche Innsul EUtopia erscheint heute weiter entfernt denn je“ (S. 414). Auf den Beitrag folgt eine Überlegung von Sebastian Liebold zur Stellung des Bundesrats als Länderkammer im Gefüge der Europäischen Union. Einen Vergleich „europäischer Wohlfahrtsstaaten am Beispiel der deutschen Familien- und Rentenpolitik“ unternimmt Sandra Fischer. Die Beziehungen zwischen Deutschland und Tschechien nimmt Lukáš Novotný in den Blick, während sich Adriaan Ph. V. Kühn zu guter Letzt zum „Stand von Demokratie, Populismus und Extremismus in Spanien“ äussert.

Ausgewählte Beiträge
An dieser Stelle sollen zwei ausgewählte Aufsätze etwas näher vorgestellt werden, da diese, dem Charakter des Rezensionsorgans entsprechend, einen direkten Bezug zum Themengebiet „Religion“ aufweisen.

Kampf gegen Extremismus und Sektenabwehr
Der Politikwissenschaftler Ralf Grünke vergleicht in seinem Beitrag (S. 151-160) die Tätigkeiten der deutschen Verfassungsschutzbehörden mit denen der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen (EZW) in Berlin, wobei der Schwerpunkt auf letzterer liegt. Die EZW ist nach eigenen Angaben „die zentrale wissenschaftliche Studien-, Dokumentations-, Auskunfts- und Beratungsstelle der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) für die religiösen und weltanschaulichen Strömungen und Gemeinschaften der Gegenwart. Sie hat den Auftrag, diese wahrzunehmen, zu verstehen und aus evangelischer Sicht einzuordnen.“ Grünke problematisiert den Sektenbegriff, spricht den Mitgliederschwund der Volkskirchen an und beschreibt den Stil einer „dialogischen Apologetik“ (S. 156) seitens der EZW. Er betont: „Die Sektenabwehr zum Schutz der Interessen der Volkskirchen kann selbstredend unmöglich zum gesamtgesellschaftlichen oder gar staatlichen Ziel werden“ (S. 156). Der Schlusssatz des Beitrags, „aber beide sind Obst“ (S. 160), schliesst zwar literarisch konkludent an die im Titel aufgeworfene Frage eines Vergleichs von „Äpfel und Birnen“ an, droht aber allzu leicht die ebenfalls von Grünke herausgearbeiteten, bei allen Parallelen doch erheblichen Unterschiede beider Institutionen wieder zu relativieren. Nach Meinung des Rezensenten regt der Beitrag dazu an, die Herausforderungen einer noch deutlicheren Selbstbeschränkung der EZW auf den eigenen kirchlichen Bereich und die Inanspruchnahme dieser Einrichtung durch säkulare Institutionen weiter zu problematisieren.

Die Apokalypse des Dschihadismus
Der Frage, wo die dschihadistische Ideologie ideengeschichtlich zu verorten und ob sie eine neue Form von Totalitarismus ist, geht Evelyn Bokler-Völkel nach (S. 207-216). Die Autorin ist Lehrbeauftragte an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität in Bonn und Habilitandin im Fach Politikwissenschaft. Nach der Definition einschlägiger Begriffe wird der Dschihadismus als „extrem gewaltsame Unterform des Islamismus, der den Dschihad, d.h. den Heiligen Krieg, in den Mittelpunkt seiner Lehre rückt“ (S. 208), eingehend analysiert. Bokler-Völkel kommt zu dem Ergebnis, dass sich der Dschihadismus trotz vieler Gemeinsamkeiten von einer totalitären Ideologie absetzt (S. 216). Die Ausführungen zum „Islamischen Staat“ (IS) aus religionsphänomenologischer Perspektive enthalten treffende und kluge Beschreibungen. Weniger überzeugt hat den Rezensenten Bokler-Völkels Sichtweise auf den religionsgeschichtlichen Hintergrund des Dschihadismus: die Autorin sieht in den drei abrahamitischen Religionen (Judentum, Christentum, Islam) ein gemeinsames „dualistisches, lineares Weltverständnis“, „das die Geschichte zu einem Kampf zwischen Gut und Böse existentiell steigert“ (S. 208). Bokler-Völkels stellt die These auf: „Der heutige Islamismus bzw. Dschihadismus bewegen sich in dieser eschatologischen Denktradition, welche der Geschichte einen Kampf zwischen dem Guten, Allah, und dem Bösen, dem Teufel, zugrunde legt und so eine eschatologische Teleologie definiert“ (S. 208). Abgesehen von der Unvollständigkeit und Brüchigkeit ihrer diesbezüglichen Ausführungen zu Juden- und Christentum stellt sich die Frage, welche Belege die Autorin für diese These beibringt. Der Dualismus bzw. der Teufel spielt im Islam aufgrund der absoluten Herrschaft und Souveränität Allahs längst nicht die Rolle, welche Bokler-Völkel ihm hier zuordnet.

Fazit
Durch die Kürze der Beiträge und die Breite der abgedeckten Inhalte vermag die Festschrift dem geneigten Leser bei allem Ernst des Themas auch „in unruhigen Zeiten“ eine angenehme „Brise frischen Windes“ zu verleihen. Je nach persönlichem Interesse wird man bei manchen Aufsätzen stärker „hängenbleiben“ als bei anderen. Insgesamt zeichnet sich das Werk durch umfassende politikwissenschaftliche Gelehrsamkeit und deutlichen Gegenwartsbezug aus: die Stabilität unserer Demokratie und ihre Gefährdungen gehen schliesslich jeden Bürger etwas an. Es wäre zu wünschen, dass die Beiträge dieses Bandes auch von politisch Verantwortlichen jeder Couleur rezipiert werden. Der relativ hohe Preis wird vermutlich manchen Interessenten leider davon abhalten, sich diese vielseitige und aktuelle Festschrift für seine Privatbibliothek anzuschaffen.
Jens-Oliver Mohr

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