Schlussbotschaft
(Vorläufige Übersetzung aus dem Englischen)
I. Erfahrung
1. Acht Jahre sind vergangen, seit die Erste Europäische Ökumenische Versammlung in Basel abgehalten wurde, die erste ihrer Art, die einen freudigen Vorgeschmack der in Europa bevorstehenden umwälzenden Veränderungen gab, und vielen Gebieten Freiheit und das Ende des "Kalten Krieges" brachte. Heute, da wir im Juni 1997 in Graz, Österreich, zur Zweiten Europäischen Ökumenischen Versammlung zusammengekommen sind, ist die Euphorie verflogen. Die Erklärung von Basel über "Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung", in der gesagt wurde, dass Europa sich mit einer Serie untereinander verbundener Probleme konfrontiert sieht, die das Überleben der Menschheit gefährden, hat sich bewahrheitet, und selbst die Grausamkeiten des Krieges sind nach Europa zurückgekehrt und haben ungeheilte Wunden hinterlassen.
2. Herausgefordert und angeregt vom Thema "Versöhnung - Gabe Gottes und Quelle neuen Lebens" kamen wir, Männer und Frauen aller Generationen, aus den vielen Kirchen Europas, aus Ost und West, aus Nord und Süd, nach Graz. Unter uns waren auch Vertreterinnen und Vertreter anderer Religionen und Gäste aus anderen Teilen der Welt. Als Christen aus Kirchen, die immer noch getrennt sind, erleben wir Ängste, Spannungen, Probleme und Barrieren, wie unsere Miteuropäer und im Grunde wie alle Menschen. Aber in unseren Herzen war die starke Hoffnung, Schritte zu tun auf dem Weg der Versöhnung. Diese Hoffnung wurde verstärkt durch die Präsenz und die Beiträge so vieler junger Leute.
3. Wir kamen zur Zweiten Europäischen Ökumenischen Versammlung, weil wir gläubig sind, und weil wir aus Gottes Gabe der Versöhnung leben wollen. Wir kamen mit der Hoffnung, dass wir, wenn wir uns durch diese Gabe in unserem täglichen Leben, im Leben unserer Kirchen und unseres Kontinents leiten lassen, zur Einheit der Kirchen und der Menschheit beitragen.
4. Gott hat uns in diesen Tagen reich gesegnet. Die täglichen Gottesdienste bildeten einen wesentlichen Bestandteil dieser Versammlung und die Grundlage unserer Gemeinschaft. Im gemeinsamen Gebet wurde uns erneut klar, dass wir einen barmherzigen und treuen Vater im Himmel haben, an den wir alle als Söhne und Töchter glauben. Im Nachdenken über Gottes Wort spürten wir im Evangelium die Macht seiner Gnade, die unser Denken verändert und den Menschen, die sich um den Einen Herrn versammeln, neues Leben schenkt. Der Heilige Geist, der der "Geber des Lebens" ist, schuf eine Atmosphäre des Vertrauens und der Zusammenarbeit, in der wir mit Herz und Sinn füreinander offen sein konnten. Wir fühlten auch den Schmerz fortdauernder Trennungen, die unterstreichen, wie schwer es ist, die Versöhnung zu leben, die wir verkündigen. Für die Durchführung einer so grossen Versammlung, an der Delegierte und Kirchenführer aus mehr als 150 Kirchen und mehr als 10'000 Menschen aus vielen verschiedenen Traditionen teilnahmen, war praktische Nächstenliebe
gefordert. Wir erlebten, dass ökumenische Begegnung harte Arbeit ist, aber auch die Freude wachsender Einheit beinhaltet. Die ökumenische Bewegung ist in sich selbst schon ein Weg der Versöhnung.
II. Reflexion
5. In Graz konnten wir einen Eindruck von der Wirklichkeit der Versöhnung in Christus bekommen, und der Segnungen, die auf dem Weg dorthin zu finden sind - des Segens unserer Erinnerung an die jüdischen Wurzeln unseres Glaubens (Röm 11,16-18), der Wiederentdeckung unserer Nachbarn, der Erneuerung von Freundschaften und gegenseitigem Vertrauen, das beide Seiten verwandelt. Dies gab uns die Gelegenheit, zusammen zu wachsen und dadurch eine gemeinsame Zukunft zu gestalten. Wir haben eine Vision Europas, in dem es keine Kirchen, Bürgerinnen und Bürger, Staaten und Rassen erster oder zweiter Klasse gibt, und wo alle Mitglieder der einen europäischen Familie eine Stimme haben, einem Europa, das sich seiner Verantwortlichkeiten bewusst ist und anderen Kontinenten gegenüber offen bleibt. Eine erneuerte und leidenschaftliche Verpflichtung von seiten aller Kirchen, für die Erfüllung des Gebetes unseres Herrn, "Alle sollen eins sein: Wie Du, Vater, in mir bist und ich in dir bin, sollen auch sie in uns sein, damit die Welt glaubt." (Joh 17,21-22), würde sicherlich zur Entwicklung eines wahrhaft vereinten Europas beitragen. Wir glauben, dass dies eine Vision ist, die alle ansprechen muss, und zu der wir uns als Christinnen und Christen verpflichten.
6. Wir kamen zu dieser ökumenischen Versammlung, nicht nur um Ideen auszutauschen und Erfahrungen zu teilen, sondern über Worte hinaus zu konkreten Massnahmen zu kommen, im Bewusstsein, dass unsere Trennungen und Feindschaften immer noch Konflikte hervorrufen und ein ernsthaftes Hindernis sind, die Gabe der Versöhnung sichtbar zu machen. Dafür bitten wir um Gottes Vergebung und sprechen denen, die durch uns Leid erlebt haben, unsere Reue aus. Wir sind traurig darüber, dass es diese Trennungen nicht nur zwischen unseren Kirchen, sondern auch zwischen einzelnen Mitgliedern unserer Kirchen und zwischen Frauen und Männern gibt. Da diese Schwierigkeiten in uns als Einzelnen und in unseren Kirchen bestehen, muss die Versöhnung durch den Geist Gottes in Christus beginnen, der unsere Herzen und Sinne verwandelt.
7. Wir anerkennen die Möglichkeiten, die sich aus der Globalisierung ergeben, sind uns aber auch bewusst, dass dadurch Menschen Opfer wirtschaftlicher Interessen und Entscheidungen werden können, die ausserhalb ihrer Kontrolle liegen. Die Kluft zwischen reich und arm wird grösser, nicht nur in den anderen Teilen der Welt, sondern auch in vielen Teilen Europas. Rücksichtslose Ausbeutung von nicht erneuerbaren Ressourcen, Umweltverschmutzung und Zerstörung der Ökosysteme richten unermesslichen Schaden an und bedrohen das Wohl zukünftiger Generationen und der ganzen Schöpfung.
III. Herausforderung
8. Wir Christen und Kirchen Europas stellen uns diesen Herausforderungen im Bewusstsein unserer Schwäche und der Schande unserer Spaltung. Wir können keine einfachen Lösungen anbieten. Was uns bewegt, ist unsere christliche Vision der Versöhnung. Das Geschenk der Versöhnung in Christus spornt uns an zum Engagement für:
- die Verkündigung und Vermittlung des Evangeliums an die Völker Europas, dass Gott Christus die Welt mit sich versöhnte. (Kor 5,18);
- die unermüdliche Verfolgung des Ziels der sichtbaren Einheit; wir sollten unsere Spaltungen in diesem Kontext überprüfen und uns fragen, ob sie das Ergebnis der Vielfalt waren, die damals als spaltend empfunden wurde, heute aber als bereichernd gesehen wird;
- die Einleitung eines Prozesses der Vergangenheitsbewältigung im Geist historischer Wahrheit;
- die Förderung der Zusammenarbeit in allen Bereichen einschliesslich der Mission und des offenen Dialogs sowie die Vermeidung eines zerstörerischen Wettbewerbsdenkens unter gegenseitiger Achtung der Gewissensfreiheit; die Bekräftigung des gleichen Status und der gleichen Rechte von Minderheitskirchen und Völkern;
- die Unterstützung der Versöhnungsarbeit lokaler Verbände, öffentlicher Institutionen und europäischer Körperschaften;
- die Fortführung ernsthafter interreligiöser Dialoge, im Bewusstsein, dass selbst in Europa Einzelne und Kirchen immer noch um ihres Glaubens willen leiden;
- die Abhaltung ökumenischer Treffen auf lokaler und regionaler Ebene zur Weiterentwicklung der in Graz gesammelten Erfahrungen;
- jungen Leuten die ökumenische Vision für die Zukunft anzuvertrauen und den konziliaren Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung fortzuführen.
Die Kirchen verpflichten sich
- zur eindeutigen Erklärung und Wahrung der Menschenrechte und demokratischen Prozesse;
zur Zusammenarbeit beim Versuch, alle Formen von Gewalt, insbesondere gegen Frauen und Kinder, zu ächten; - zur Bekämpfung aller Formen der Diskriminierung innerhalb der Kirchen;
- zur Förderung der Stellung und Gleichberechtigung der Frauen in allen Bereichen einschliesslich entscheidungstragender Funktionen, unter Einhaltung der je eigenen Identitäten von Männern und Frauen;
- zur Bekräftigung ihres Engagements für soziale Gerechtigkeit und ihrer Solidarität mit den Opfern sozialer Ungerechtigkeiten;
- zur Unterstützung der Umweltpolitik in ihren eigenen Aktionsfeldern;
- zur Bekämpfung wirtschaftlicher Systeme, die sich im Zuge der Globalisierung negativ auswirken.
Aufgrund unseres Engagements für diesen Versöhnungsprozess fordern wir die politischen Entscheidungsträger und alle Bürgerinnen und Bürger dringend auf:
- die Würde der menschlichen Person und die Heiligkeit des menschlichen Lebens zu schützen;
den Vorrang der menschlichen Person gegenüber wirtschaftlichen Interessen wieder herzustellen oder aufrechtzuerhalten; d. h. unter
anderem Arbeitslosigkeit, insbesondere unter jungen Menschen, zu bekämpfen; - sich für die Würde und den Schutz der Rechte von Flüchtlingen, Migranten und Vertriebenen einzusetzen und das Recht von Flüchtlingen auf Asyl und die freie Wahl ihres Wohnortes aufrechtzuerhalten;
Abrüstung und die Entwicklung gewaltfreier Wege zu unterstützen und sich umgehend für Verhandlungen zur umfassenden Zerstörung der Atomwaffen gemäss dem Atomwaffensperrvertrag einzusetzen; - im biblischen Geiste des Jubiläums die nicht rückzahlbaren Schulden der ärmsten Länder mit dem Jahr 2000 zu erlassen und dabei sicherzustellen, dass das einfache Volk der Hauptbegünstigte dieser Massnahme ist;
- die notwendigen Massnahmen zu ergreifen, um den gegenwärtigen Trend zu Umweltzerstörung und Ausbeutung der natürlichen Ressourcen der Welt umzukehren und nachhaltige Lebensbedingungen für die gesamte Schöpfung zu schaffen.
9. Wir bekräftigen unsere Überzeugung, dass die ethische Dimension der Gerechtigkeit im Bereich der Politik, der Wirtschaft, der Technik und der Massenmedien eine unverzichtbare Rolle spielt, wodurch Versöhnung im Leben aller Menschen Realität werden kann.
10. Die Versöhnung als Gabe Gottes und Quelle neuen Lebens ermutigt uns, mit unseren Schwestern und Brüdern, die aufgrund von Vorurteilen hinsichtlich Rasse, Geschlecht, ethnischer Abstammung, Alter und Religion verfolgt und ausgegrenzt werden, beim Aufbau einer wahrhaft humanen Gemeinschaft zusammenzuarbeiten. Der Geist der Versöhnung erfordert, dass wir egozentrischem Individualismus mit der Erkenntnis begegnen, dass Unterschiede eine Gabe sind, die uns dabei hilft, die wundervolle Vielfalt Gottes einzigartiger Schöpfung zu entdecken.
11. Als europäische Kirchen und Christen sind wir entschlossen, unsere Solidarität mit den Bedürftigen, den Ausgegrenzten und Ausgestossenen unserer Welt nachdrücklicher zu bekunden. Jeder Mensch ist ein Bruder oder eine Schwester, für den/die Christus gestorben und auferstanden ist. Jeder Mensch ist nach dem Bild des Dreieinigen Gottes geschaffen.
Zweite Europäische Ökumenische Versammlung (EÖV2)
Juni 1997