Die Erweckungsbewegung des baptistischen Pastors William Miller (1782-1849) in den USA zerfiel in verschiedene Gruppen, nachdem Christus, wie von ihr erwartet, am 22. Oktober 1844 nicht wiedergekommen war. Eine sehr kleine Gruppe verzichtete auf jegliche Berechnungen der Wiederkunft Jesu und feierte den Sabbat (Samstag) als biblischen Ruhetag. „Am 21. Mai 1863 – vor fast genau 150 Jahren – trafen sich Repräsentanten dieser wachsenden Gemeinschaft von inzwischen etwa 125 Gemeinden mit 3.500 Mitgliedern in Battle Creek (Michigan) und organisierten die ‚Generalkonferenz der Siebenten-Tags-Adventisten‘.“ So beschreibt der niederländische Theologe und ehemalige Präsident der Adventisten in den Niederlanden, Belgien und Luxemburg, Dr. Reinder Bruinsma, in einem Artikel der April-Ausgabe der Zeitschrift „Adventisten heute“ die Gründung der Freikirche.
Eine Kirche mit einer Mission
„Diese anscheinend unbedeutende neue Konfession unter Hunderten anderer, die auf nordamerikanischen Boden entstanden sind, wuchs innerhalb von 150 Jahren zu einer weltweit verbreiteten Kirche mit mehr als 17 Millionen erwachsen getauften Mitgliedern an. Sie ist heute in den meisten Ländern der Erde vertreten“, so Bruinsma. Es habe allerdings ein Jahrzehnt gedauert, bevor der Kirchenleitung bewusst geworden sei, dass sie eine Mission hatte, die über die Grenzen der USA hinausging. „Erst 1874 wurde mit John N. Andrews (1829-1883) der erste offizielle Missionar nach Europa gesandt. Noch vor der Jahrhundertwende hatten adventistische Missionare alle Kontinente betreten.“ Ein neuer Missionsschub, der alle „Volksgruppen“ auf der Welt erreichen sollte, sei 1990 durch das Programm „Global Mission“ entstanden. Doch die Mission in islamischen Ländern bedeute nach wie vor eine enorme Herausforderung, da Christen dort oft verfolgt würden und die Gründung offizieller Gemeinden vielfach unmöglich wäre.
Eine Kirche mit einer Theologie
Adventisten verstünden sich als „Erben der Reformation“, einer Bewegung, die ihre theologischen Wurzeln in der Reformation habe. „Neben Martin Luther beeinflussten vor allem die Lehren Johannes Calvins und der Wiedertäufer die Theologie der neuen Kirche“, informierte Reinder Bruinsma. Die Millerbewegung sei interkonfessionell gewesen und habe den Sabbat haltenden Adventisten etliche Lehren aus verschiedenen vorwiegend calvinistischen Traditionen hinterlassen.
Es hätte bis über das Ende des 19. Jahrhunderts hinaus gedauert, bis die Freikirche ihre Theologie ausgearbeitet habe. Zwar wären die speziellen adventistischen Lehren, wie der Sabbat und der hohepriesterliche Dienst Jesu im himmlischen Heiligtum, schon früher ausformuliert worden, aber erst in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts seien solch grundlegende christliche Lehren, wie die Rechtfertigung aus dem Glauben, die volle Gottgleichheit und ewige Präexistenz des Sohnes Gottes sowie die Persönlichkeit des Heiligen Geistes allgemein anerkannt worden.
Eine Kirche mit sozialer Verantwortung
Schon bald nach 1845 hätten die Sabbat haltenden Adventisten laut Bruinsma eine ganzheitliche Sichtweise der Natur des Menschen angenommen. Der Mensch sei kein gespaltenes Wesen aus Körper und unsterblicher Seele, sondern ein ganzheitliches Geschöpf, das in allen Lebensbereichen Christus nachfolgen sollte. Das zeige sich im adventistischen Lebensstil, in der Betonung einer gesunden Lebensweise und der Haushalterschaft, also in dem Bemühen, mit den anvertrauten Mitteln und Gaben gottgefällig umzugehen.
Durch diese Sichtweise seien über 400 Krankenhäusern und Kliniken sowie mehr als 7.800 Schulen und Hochschulen entstanden. Zudem gebe es zahlreiche Wohlfahrtaktivitäten, einschliesslich der Gründung von ADRA. Die Adventistische Entwicklungs- und Katastrophenhilfe sei mittlerweile zu einem weltweiten Netzwerk der Entwicklungs- und Katastrophenhilfe in 120 Ländern angewachsen.
Eine Kirche, die mit der Zeit geht
„Adventisten waren stets an vorderster Front in der Nutzung neuer Technologien und Massenmedien“, berichtete Reinder Bruinsma. „Bereits 1848 wurde von James White (1821-1881) ein eigener Verlag, bald danach eine eigene Druckerei eingerichtet.“ Harold M. S. Richards (1894-1985) habe 1929 in Los Angeles mit regelmässigen Radiosendungen der „Voice of Prophecy“ (Stimme der Prophetie) begonnen. „Es wurden nach und nach Studios in aller Welt und eigene Sendestationen eingerichtet oder Sendezeit bei etablierten Sendern eingekauft.“ Seit mehr als 40 Jahren sende „Adventist World Radio“ über Kurzwelle grösstenteils mit eigenen Sendestationen, um unerreichten Volksgruppen das Evangelium zu verkündigen, zunächst vorwiegend in den damals kommunistischen Ländern. Heute würden Sendungen in über 80 Sprachen ausgestrahlt.
Als das Fernsehen populärer wurde, habe 1956 George Vandeman (1916-2000) regelmässig adventistische Sendungen mit dem Titel „It Is Written“ (Es steht geschrieben) zu produzieren begonnen. Die Satellitentechnik sei 1995 erstmals zur Ausstrahlung einer Evangelisationsreihe mit Mark Finley genutzt worden. „Seitdem wurden mehrfach mit Hilfe der Übertragung eines zentralen Programms in vielen Ländern gleichzeitig Evangelisationen gehalten.“ Seit einigen Jahren sende der „Hope-Channel“ in mehreren Ländern ein 24-Stunden-Programm, seit vier Jahren auch in Deutschland.
Eine einige Kirche
Viele Konfessionen hätten laut Bruinsma zahlreiche Spaltungen und Aufsplitterungen erfahren. Es gebe zum Beispiel über 200 baptistische und über 140 lutherische Denominationen. Im Gegensatz dazu sei der Adventismus mit Ausnahme der Abspaltung kleiner Gruppen relativ geeint geblieben. „Die Art und Weise der adventistischen Kirchenorganisation hat sicher ihren Teil dazu beigetragen.“ Die verschiedenen Organisationsebenen seien in ständigem Kontakt miteinander. Häufige Ausschusssitzungen, Konferenzen, Konsultationen und Besuche sowie international verbreitete Publikationen wie „Adventist World“ spielten eine wichtige Rolle in dem Bemühen, Adventisten in ihrem Glauben und ihren Werten zusammenzuhalten. Die meisten der über 72.000 örtlichen Adventgemeinden in aller Welt studierten das gleiche Thema im Bibelgespräch während des Gottesdienstes und folgten dem gleichen Regelwerk, der „Gemeindeordnung“.
Herausforderungen für die adventistische Kirche nach 150 Jahren
„Gerade weil unsere Kirche weltumspannend geworden ist, kann man sich fragen, ob sie nicht in der Art und Weise, wie sie handelt, zu viele US-amerikanische Merkmale behalten hat“, gab der niederländische Theologe zu bedenken. Heute lebten weniger als sechs Prozent der Adventisten in Nordamerika, aber US-amerikanische Werte und Vorgehensweisen dominierten die Kirche in vielfacher Weise. Und auch wenn die Kirche im Grossen und Ganzen mit der Zeit gegangen sei, scheine es für sie dennoch gegenwärtig sehr schwierig zu sein, mit dem postmodernen Denken in den westlich geprägten Ländern zurechtzukommen, speziell unter ihren Jugendlichen.
Zudem falle es der Freikirche nicht leicht, die Wege, auf denen traditionelle adventistischen Werte in die Tat umgesetzt werden, zu aktualisieren, damit sie im 21. Jahrhundert relevant blieben. „Adventisten standen einmal an vorderster Front, wenn es um die Gesundheit ging, aber das ist nicht länger der Fall“, beklagte der Theologe. Während Adventisten aus ihrer Wertschätzung der Schöpfung heraus führend im Bestreben sein sollten, die Umwelt zu schützen und die Ressourcen der Erde nachhaltig zu nutzen, hätten sie diese Gelegenheit versäumt. Und speziell unter Jugendlichen, aber auch in der mittleren Generation würde es mit adventistischen Lebensstilgrundsätzen, wie gesunder Ernährung, dem Verzicht auf Alkohol sowie sexueller Enthaltsamkeit vor einer Eheschliessung, nicht mehr genau genommen.
Zwar sei die Kirche in ihrer Theologie gereift, und Lehrveränderungen seien möglich. Aber bedauerlicherweise wären anscheinend viele Vorstellungen wie in Beton gegossen, und unabhängiges Denken werde nicht immer geschätzt. Und es gehöre zur traurigen Realität, dass sowohl manche Leiter und Pastoren als auch Gemeindemitglieder der Versuchung erlägen, theologische Randthemen zur Hauptsache zu machen.
Einheit ist nach Bruinsma ein wichtiger Wert, aber offenbar werde das Konzept der Einheit häufig im Sinne von Einheitlichkeit verstanden; „und es wird versäumt, sich von der Vielfalt der Kulturen unserer Gemeindemitglieder rund um die Welt bereichern zu lassen“. Zudem könnte es sein, dass Adventisten es noch lernen müssten, die heutigen Medien, speziell die digitalen Medien und sozialen Netzwerke, so zu nutzen, dass säkulare Menschen davon angesprochen würden. „Und bräuchten unsere Organisationsstrukturen nicht eine Revision, um den heutigen Anforderungen besser gerecht zu werden?“, fragte der Theologe am Schluss seines Artikels.