Weil sie am Ende der neunten Klasse die landesweite Abschlussprüfung in Mathematik aus religiösen Gründen am 31. Mai, einem Samstag, nicht schrieben, konnten neun Schüler, deren Eltern Mitglieder der protestantischen Freikirche der Siebenten-Tags-Adventisten sind, nicht in die zehnte Klasse übertreten. Adventistische Christen feiern den Samstag (Sabbat), den biblischen Ruhetag und überlassen es ihren Jugendlichen, ob und wann sie sich durch die Erwachsenentaufe der Kirche anschliessen wollen. Die Verantwortlichen der öffentlichen Schule in Belgorod/Russland, 660 Kilometer südlich von Moskau, nahe der Grenze zur Ukraine, hätten Anfragen der neun Schüler um Ausweichdaten schlichtweg abgelehnt, berichtete Andrew McChesney, Russland Korrespondent von Adventist News Network ANN.
Die Schulbehörden der russischen Föderation hätten zwar das Prüfungsdatum landesweit auf Samstag, 31. Mai festgelegt, aber vorhergesehen, dass Schüler aus religiösen Gründen am Samstag die Prüfung nicht schreiben würden. Dafür hätten sie zwei alternative Prüfungsdaten am 16. oder 19. Juni vorgesehen.
Adventistische Kirchenleiter in Russland hätten nach der Verweigerung des alternativen Prüfungsdatums in Belgorod brieflich bei den Bundesbehörden der Russischen Föderation interveniert. „Für uns ist dies eine unhaltbare Situation“, schrieben sie. „Wir appellieren sowohl an die Führung der Russischen Föderation als auch an weitere staatliche Instanzen und religiöse Vereinigungen, alle gesetzlichen Massnahmen zu ergreifen, um diese Verletzung des Rechts in der Region Belgorod zu beseitigen."
Laut ANN stehe im Brief, dass die lokale Schulleitung und die zuständigen Beamten für Bildung „in grober und beleidigender Weise“ Druck auf die adventistischen Eltern ausgeübt hätten, die Kinder aufzufordern, ihrer religiösen Überzeugung abzusagen und das Examen am vorgegebenen Datum zu schreiben. Diese Vorgehensweise sei eine „Beleidigung der Gefühle der Gläubigen“, heisse es im Brief.
Das Strafgesetz Russlands verbiete es „die Gefühle von Gläubigen zu beleidigen“, so ANN. Wegen dieser Anklage seien zwei Punk-Rockerinnen der Pussy Riots Band verurteilt und inhaftiert worden. Laut Wikipedia haben sie 2012 ein „Punk-Gebet“ gegen die Allianz von Kirche und Staat vor dem Altar der grössten russisch-orthodoxen Kirche, der Christ-Erlöser-Kathedrale in Moskau, vorgetragen. Der filmische Mitschnitt sei bei der Veröffentlichung im Internet mit einer neuen Tonspur unterlegt worden, bei der auch Präsident Putin erwähnt werde.
„Für uns ist das, was in der Region Belgorod geschehen ist, ein eklatanter Verstoss gegen den Grundsatz der Gewissensfreiheit und des verfassungsmässigen Rechts auf Bildung“, heisst es im Schreiben an die Russische Föderation. "Selbst in der Zeit, als die Sowjetunion noch bestand und alle religiösen Organisationen verfolgt wurden, haben die Beamten Kinder religiöser Familien nicht der Möglichkeit beraubt, die Sekundarschulbildung abzuschliessen."
Nach Angaben eines Briefunterzeichners hätten sich die Behörden von Belgorod am 24. Juni telefonisch gemeldet und angeboten, dass die neun Schüler das Examen im August, kurz vor Beginn des neuen Schuljahres, nachholen könnten.
Ausbildung kontra Sabbat in Russland
Seit der Auflösung der Sowjetunion 1991 hätten Adventisten in Russland ihren Glauben relativ ungehindert ausleben können, so ANN. Die Einhaltung des Sabbats, als biblischer Ruhetag, sei aber für adventistische Schüler und Studenten immer ein Problem gewesen. Es gebe in Russland nur eine adventistische Ausbildungsstätte, die Zaoksky Adventist University, bei Tula, 180 Kilometer südlich von Moskau, auf deren Campus es auch eine Sekundarschule sowie ein Gymansium gebe.
Sabbatproblematik in der Schweiz
Die gleiche Problematik bestehe auch für sabbathaltende Adventisten in der Schweiz. Es sei für adventistische Studenten und Arbeitnehmer schwierig bei Lehrpersonen, Schulleitungen, Universitäten und Arbeitgebern Verständnis für ihr Gewissensanliegen zu finden, sagte Pastor Herbert Bodenmann, zuständig für Aussenbeziehungen und Religionsfreiheit der Siebenten-Tags-Adventisten in der Schweiz.
„Es wird versucht auf die adventistischen Jugendlichen Einfluss zu nehmen, indem man ihnen sagt, dass ein alternativer Prüfungstermin mit immensem Aufwand verbunden sei und sie doch einmal eine Ausnahmen machen könnten“, so Bodenmann. Manchmal werde auch vorgeschlagen, dass ein adventistischer Pastor einen Dispens schreiben soll. „Das funktioniert bei evangelischen Christen aber nicht, denn sie haben nicht ein Problem mit ihrer Kirche, sondern mit ihrem Gewissen“, sagte der Pastor, „dieses Problem ist nicht delegierbar“. Adventistische Arbeitnehmende würden oft von ihren Vorgesetzten mit dem Argument unter Druck gesetzt, dass sie sich unkollegial verhielten, wenn sie bei einer ausnahmsweise angesetzten Samstagarbeit nicht erschienen.
Vor allem in den 1950er Jahren hätten adventistische Eltern in der Schweiz um die Befreiung von der Schulpflicht am Samstag für ihre Kinder gekämpft. Diese Auseinandersetzungen seien im „Memorandum zum Schutze der religiösen Minderheiten in der Schweiz“ festgehalten, so Bodenmann. Es habe kantonal sehr unterschiedliche behördliche Massnahmen gegeben. „Die Eltern sind für das Versäumen der Schulpflicht am Samstag pro Kind im Kanton Waadt mit ‚milden’ zwei Franken gebüsst worden, in anderen Kantonen hat es aber empflindliche Bussen abgesetzt.“ Die Einführung der Fünftagewoche habe das Problem wesentlich entschärft, aber nicht beseitigt.