Vor 72 Jahren wurde Karl Georg Harress im schlesischen Konzentrationslager Gross-Rosen ermordet. Er sei jedoch einer der weithin vergessenen adventistischen Märtyrer, schreibt der Historiker und Dekan des Fachbereichs Theologie der Theologischen Hochschule der Freikirche der Siebenten-Tags-Adventisten in Friedensau bei Magdeburg, Dr. Johannes Hartlapp, in der Hochschulzeitschrift „Dialog“ 3/2014.
Karl Harress, geboren am 20. März 1887 im thüringischen Oberlind (bei Sonneberg), liess sich nach seiner Militärzeit, die ihn nach Schlesien verschlagen hatte, 1912 in Hirschberg (heute Jelenia Góra/Polen) taufen und wurde Siebenten-Tags-Adventist. 1913/14 erhielt er eine Ausbildung am Missionsseminar Friedensau und arbeitete anschliessend als Kolporteur (Buchverkäufer). Nach dem Ersten Weltkrieg, dessen Schrecken er als Sanitäter miterlebte, arbeitete er als Pastor in Lüdenscheid, Hannover, Kassel, Dortmund, Osnabrück und Oldenburg.
Hartlapp beschreibt Karl Harress als einen Mann, der eher vorsichtig und zurückhaltend gewesen sei. Seiner Frau gegenüber habe er einmal geäussert: „Wir gehen schrecklichen Zeiten entgegen, wie sie Deutschland noch nicht gesehen hat.“ Sein Gewissen hätte es nicht zugelassen, den Hitlergruss anzuwenden. Er habe mit „Guten Tag“ oder „Grüss Gott“ gegrüsst, selbst den Ortsgruppenleiter im Haus. Nach einem Umzug innerhalb von Oldenburg in ein Gebäude der adventistischen Grundstücksverwaltung, in dem Karl Harress zugleich als Verwalter fungierte, habe er sich nicht nur einmal den Zorn, ja die Feindschaft einzelner Mieter zugezogen. Es scheint, dass diese Mieter ihn auch bei der Gestapo denunziert hätten, so Hartlapp.
Anfang Dezember 1941 kamen drei Gestapobeamte in Harress‘ Wohnung, um ihn zu sprechen. Alle drei hätten bereits evangelistische Vorträge von ihm besucht. Da er nicht zu Hause war, wurde er zum Verhör einbestellt. Dort eröffnete ihm die Gestapo, dass ein Soldat, mit dem Harress nach einem seiner Vorträge gesprochen hatte, ihn wegen angeblicher Äusserungen angezeigt habe. Die Beamten der Gestapo liessen sich erklären, was Harress zum Schicksal der Juden zu sagen habe. Ihnen gefiel nicht, so Hartlapp, dass er im Gespräch nicht nur 5. Mose 28 (Ankündigung von Segen und Fluch über Israel), sondern genauso Sacharja 2,12 f. (Gott spricht: „Wer Israel antastet, der tastet meinen Augapfel an“) nannte. Ein weiteres Thema waren seine theologischen Überzeugungen über das Ende der Welt. Nach mehrstündigem Verhör durfte er nach Hause gehen, wurde jedoch am nächsten Tag verhaftet und in einer Schule in der Nähe untergebracht.
Seine Frau habe acht Tage lang nicht gewusst, wo sich ihr Mann befinde. Als sie ihn nach vier Wochen besuchen durfte, sei er nur noch „ein Schatten seiner selbst“ gewesen. Die schwere Strassenarbeit, die er verrichten musste, habe ihn stark abmagern lassen. Er wäre bereits mehrfach umgefallen, die Füsse von den Holzpantinen ganz aufgescheuert. Während dieser Zeit in Oldenburg wurde das endgültige Gerichtsurteil gefällt: Haft im Konzentrationslager.
Nach dem Gerichtsurteil kam Karl Georg Harress im Februar 1942 ins KZ Sachsenhausen bei Oranienburg (Häftlingsnummer 1899), berichtet Hartlapp. Hier habe er einen Adventisten aus der benachbarten Adventgemeinde Hude getroffen, der allerdings später wieder aus dem KZ entlassen worden sei. Schliesslich verlegte man Harress einen Monat später ins KZ Gross-Rosen bei Breslau, einem ehemaligen Zuchthaus. Von dort sei es ihm gestattet worden, zwei Briefe pro Monat seiner Familie zu schicken. Für seine Frau wären es jedoch „vorgedruckte Feldpostbriefe“ gewesen.
Im Mai 1942 habe Harress die Briefe an seine Familie von einer andern Person schreiben lassen. Zu dieser Zeit war er laut Hartlapp bereits wegen einer verletzten rechten Hand ins Krankenrevier eingeliefert worden. Als daraufhin seine Frau sich nach seinem Zustand erkundigte und um eine Besuchserlaubnis bat, erhielt sie zur Antwort: „Nach Rückfrage im Revier hat er eine Entzündung an der rechten Hand und kann deswegen nicht fliessend schreiben. Der Gesundheitszustand Ihres Ehemannes hat sich aber gebessert, und er hofft, in einigen Wochen wieder selbst schreiben zu können.“
Die Antwort auf die Bitte um Besuchserlaubnis habe auf sich warten lassen. Stattdessen wurde der Ehefrau am 6. Juli die Todesnachricht mitgeteilt: „Ihr Ehemann Karl Harress meldete sich am 9.5.42 krank und wurde daraufhin unter Aufnahme im Krankenbau in ärztliche Behandlung genommen. Es wurde ihm die bestmöglichste medikamentöse und pflegerische Behandlung zuteil. Trotz aller angewendeten ärztlichen Bemühungen gelang es nicht, der Krankheit Herr zu werden. Ich spreche Ihnen zu diesem Verlust mein Beileid aus. Ihr Ehemann hat vor seinem Ableben keinerlei letzte Wünsche mehr gehabt.“
Ehefrau Frieda Harress meinte dazu: „Ich nahm es damals für bare Münze. Später erkannte ich, dass es purer Hohn war.“ Sie erhielt auch alles ungeöffnet zurück, was sie ihrem Mann an Briefen und Paketen geschickt hatte. Er habe nichts davon erhalten.
Es sei der Adventgemeinde Oldenburg und vor allem dem dortigen Pastor Ralph Eigenbrodt zu danken, dass das Erbe von Karl Harress nicht verloren ging, hebt Dr. Johannes Hartlapp hervor. Anfang Juli 2012 wurde eine „Stolperplatte“ in den Boden des Gehweges vor der Gemeinde eingelassen. Sie ziehe die Blicke der Vorbeigehenden auf sich und diene auf diese Weise den Nachgeborenen als Mahnmal.
Nach den Zeugen Jehovas und römisch-katholischen Priestern stellten Siebenten-Tags-Adventisten die drittgrösste Märtyrergruppe im Kreis der verfolgten Christen während der NS-Zeit dar, berichtet Hartlapp. Die Mehrheit dieser Adventisten habe allerdings den im Ersten Weltkrieg entstandenen Reform-Adventisten angehört. Das Beispiel in Oldenburg sollte andere adventistische Gemeinden ermutigen, sich mit der eigenen Geschichte auseinanderzusetzen.