Vor 15 Jahren wurden von der Freikirche der Siebenten-Tags-Adventisten in Deutschland Beschlüsse gefasst, um einen unabhängigen Fachbeirat „Sexueller Gewalt begegnen“ zu gründen. An diese wegweisende Entscheidung erinnert Rechtsanwalt Oliver Gall, derzeitiger Leiter des Fachbeirates, in einem Beitrag in der Juni-Ausgabe 2024 der Kirchenzeitschrift „Adventisten heute“. Er stellt fest, dass der finanzielle und zeitliche Aufwand den Nutzen dieser Arbeit mehr als rechtfertige. Die Kirchenleitung der Adventisten in der Deutschschweiz hat eine Frau zur Mitarbeit in das Gremium entsandt. Im Jahr 2012 gab die Deutschschweizer Kirchenleitung eine auf Schweizer Verhältnisse adaptierte Version der Broschüre «Sexueller Gewalt begegnen» heraus.
„Als Freikirche der Siebenten-Tags-Adventisten haben wir bereits im Jahr 2009 wegweisende Entscheidungen getroffen. Wir haben uns dazu entschieden, dieses aus Sicht der Betroffenen lebensvernichtende Thema zentral und durch ein mit Fachleuten besetztes Gremium bearbeiten zu lassen. Wir haben in diesem Zusammenhang den Fachbeirat ‚Sexueller Gewalt begegnen‘ gegründet“, betont Oliver Gall.
Der Fachbeirat bearbeite alle Fälle von sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche. Er biete für die Kirchengemeinden Präventionsseminare an. Auch biete er für von sexueller Gewalt betroffenen Frauen und Mädchen in regelmässigen Abständen Wochenenden an, an denen nur diese Personen in grösstmöglicher Anonymität teilnehmen könnten.
Ein von der Freikirchenleitung unabhängiges Gremium
Der Fachbeirat „sexueller Gewalt begegnen“ bestehe aktuell aus fünf Personen. Über eine gebührenfreie Telefonnummer und eine E-Mail-Adresse wären sie rund um die Uhr an 365 Tagen im Jahr anonym zu erreichen. Die Freikirche habe damit die Voraussetzungen geschaffen, dass sich jedes Mitglied ohne Einhaltung eines Dienstweges, ohne Kostenbelastung und, falls gewünscht, auch anonym mit seinen Problemen im Zusammenhang mit sexueller Gewalt gegenüber Kindern und Jugendlichen an den Fachbeirat wenden könne. Dieses Angebot gelte für alle Personen, die selbst von sexueller Gewalt betroffen sind, aber auch für alle Gemeindemitglieder und Besucher der Gottesdienste und Veranstaltungen, die Verhaltensweisen beobachten, die sie aus ihrem Erlebnishorizont dem Bereich der sexuellen Gewalt zuordnen würden, informiert Gall.
Da der Fachbeirat überregional und unabhängig arbeite, biete die Freikirche damit die Gewähr, dass dieser Themenbereich ganz bewusst aus der täglichen Arbeit der Pastorinnen und Pastoren vor Ort, aber auch aus dem Aufgabenkreis der regionalen und überregionalen Freikirchenleitungen (Vereinigungen und Verbände) herausgelöst wurde. Damit habe die Freikirche eine Art und Weise des Umgangs mit Fällen sexueller Gewalt verwirklicht, „die auch heute, 15 Jahre nach diesen Beschlüssen, noch wegweisend ist“.
Der Unabhängige Beauftragte für den Kindesmissbrauch der Bundesregierung, dem der Fachbeirat das Konzept der Freikirche der Siebenten-Tags-Adventisten zum Umgang mit Missbrauchsfällen vorstellte, habe das Konzept „als vorbildlich und wegweisend“ bewertet.
Dass der Fachbeirat tatsächlich unabhängig von der Freikirche arbeiten könne, um Interessenkonflikte zu vermeiden, zeige dessen Zusammensetzung. „Derzeit haben wir mit Werner Dullinger nur ein Mitglied im Fachbeirat, das als Präsident des Süddeutschen Verbandes hauptamtlich für die Kirche tätig ist.“ Drei weitere Mitglieder des Fachbeirates wären entweder ausserhalb der Freikirche beschäftigt, befänden sich im Ruhestand oder gehörten der Freikirche gar nicht an. Und auch er selbst als Vorsitzender des Fachbeirates sei als Rechtsanwalt freiberuflich tätig, betonte Oliver Gall.
Jeder Aufwand an Zeit und Geld gerechtfertigt
Die Freikirche sei bereit, für die Arbeit des Fachbeirates im Zusammenhang mit sexueller Gewalt erhebliche finanzielle Mittel zur Verfügung zu stellen, die sich im Durchschnitt der letzten Jahre auf einen hohen fünfstelligen Betrag pro Jahr beliefen. „Um als Fachbeirat die anfangs beschriebenen Aufgaben erfüllen zu können, stellen wir zusammen weit über 3.000 Stunden unserer Arbeitszeit pro Jahr in den Dienst dieser Sache“, berichtet der Vorsitzende des Fachbeirates.
Rechtsanwalt Gall stellt klar: „Wenn es uns als Kirche gelingt, Menschen, die sexuelle Gewalt erfahren haben, ernst zu nehmen, sie in ihrer Verzweiflung zu sehen, ohne Ansehen der Täterpersönlichkeit und ohne Rücksicht auf die Schwierigkeiten, Kosten und Probleme, die mit einer klaren Haltung für das Opfer und gegen den Täter verbunden sind, dann ist nach meiner persönlichen Überzeugung jeder Aufwand an Zeit und Geld gerechtfertigt.“ Es verbiete sich vor diesem Hintergrund sogar zu fragen, wie hoch der Aufwand war, um dieses Ziel zu erreichen.
Der Bericht von Oliver Gall ist auf den Seiten 20 und 21 in der Ausgabe Juni 2024 der Kirchenzeitschrift „Adventisten heute“ zu finden: https://advent-verlag.de/media/pdf/a6/89/d3/AH_2024-06.pdf.
Siehe auch die APD-Meldung vom 30.01.2024 „Adventisten begegnen sexueller Gewalt“: https://apd.media/news/archiv/16032.html.
Fachbeirat „Sexueller Gewalt begegnen“ der Adventisten
In Deutschland hat die Freikirche der Siebenten-Tags-Adventisten seit Dezember 2009 Richtlinien und einen „Verhaltenskodex“ für alle ehren- und hauptamtlichen Mitarbeiter/-innen beschlossen. Im Juni 2010 wurde durch die Freikirche der unabhängige Fachbeirat „Sexueller Gewalt begegnen“ berufen, der sich einerseits um die Erstellung von Materialien kümmert und andererseits in konkreten Fällen angesprochen wird, diese entsprechend seiner ihm übertragenen Kompetenz aufzuarbeiten. Weitere Infos unter http://sexueller-gewalt-begegnen.de/.
Die gebührenfreie Nummer des Hilfstelefons, bei dem sich Betroffene oder solche, die eine betroffene Person kennen, melden können, lautet: 0800 5015 007; E-Mail: missbrauch@adventisten.de.
Filmclips
Damit mehr Menschen in den adventistischen Kirchengemeinden über das Thema und den Fachbeirat informiert werden, wurde ein Filmporträt über Arbeit des Fachbeirates gedreht, das unter das unter dem Link https://youtu.be/l_10cc-DRrk zu sehen ist.
Buchveröffentlichung zum Thema
Als weitere Informationsquelle dient das Buch Sexueller Gewalt begegnen – "Sind unsere Gemeinden ein sicherer Ort für Kinder und Jugendliche?", das 2022 im Advent-Verlag, Lüneburg, erschienen ist. Autor Oliver Gall beschreibt darin seine vielfältigen und mitunter beklemmenden und kräftezehrenden Erfahrungen aus der Fallbearbeitung von sexuellen Gewalttaten gegenüber Kindern und Jugendlichen im kirchlichen Kontext. Auch über dieses Buch wurde ein Filmclip gedreht: https://youtu.be/nFV_Ys6fV8g.
Handreichung für Haupt- und Ehrenamtliche
Der Fachbeirat hat bereits vor einigen Jahren eine Handreichung für Haupt- und Ehrenamtliche in der Kinder- und Jugendarbeit mit dem Titel Sexueller Gewalt begegnen herausgegeben. Sie ist in deutscher, englischer und russischer Sprache erhältlich. Das Heft beginnt mit einer Einführung in das Thema samt Begriffserklärung sowie Elementen, Formen und Folgen sexueller Gewalt. Kurz beschrieben wird die Vorgehensweise von Tätern, gefolgt von einem Bericht einer Betroffenen. Sieben mögliche Szenen sexueller Gewalt verdeutlichen die Thematik. Ein weiteres Kapitel befasst sich mit juristischen Aspekten des sexuellen Missbrauchs an Kindern. Anschließend gibt es Hinweise für das Verhalten in adventistischen Gemeinden und Gruppen gegenüber Betroffenen sowie möglichen Tätern und Täterinnen. Die Broschüre schließt mit weiterführenden Hinweisen und Adressen sowie dem erwähnten „Verhaltenskodex zur Prävention sexueller Gewalt“ für Ehren- und Hauptamtliche in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen.
Im Jahr 2012 gab die Kirchenleitung der Adventisten in der Deutschschweiz eine auf Schweizer Verhältnisse adaptierte Version der Broschüre «Sexueller Gewalt begegnen» heraus.
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