Der dünne Firnis der Zivilisation - Kurt Imhof im „Standpunkt“ von Tachles, jüdisches Wochenmagazin

Zürich/Schweiz | 09.01.2015 | Tachles/APD | International

Leider musste man einen solchen Anschlag erwarten und noch schlimmer: Wir müssen weitere befürchten. Erstens wurde «Charlie Hebdo» seit der Publikation der Mohammed-Karikaturen wiederholt bedroht und ist schon Ziel eines Anschlags gewesen, zweitens dienen innerhalb des Wahrnehmungshorizonts des religiösen Fanatismus jeglicher Spielart blasphemische Handlungen immer schon als beste Rechtfertigung für Terror, drittens besteht die Logik des Terrors in der Maximierung von Aufmerksamkeit zwecks Maximierung der Effekte, und schliesslich ist viertens der Zeitgeist reif, um den «Kampf der Zivilisationen» – so Klaus-Dieter Frankenberg in einem Kommentar zu den aktuellen Ereignissen in der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» – kräftig anzuheizen. Diesem Kommentar werden viele folgen, die inhaltlich auch den Angriff auf das Herz der Demokratie in Gestalt der Pressefreiheit auf das Niveau eines zivilisatorischen Kampfes erheben. Es handelt sich um dieselbe Reaktion, die wir 2005 in zahllosen Leitkommentaren in Europa zur Kenntnis nehmen mussten, als die rechtskonservative dänische Zeitung «Jyllands-Posten» mit der Publikation von Mohammed-Karikaturen begann und auf Protest muslimischer Länder einerseits, massive Drohungen islamistischer Organisationen andererseits traf. Nicht «9/11», sondern erst der «Karikaturenstreit» von 2005 war entscheidend für eine bemerkenswerte, aber kaum reflektierte Verwandlung der Wahrnehmung der Immigrationspopulationen in den westlichen Ländern: Die Immigranten aus muslimischen Ländern wurden nicht mehr, wie bisher selbstverständlich, nach ihren Herkunftsnationen unterschieden, sondern als «Muslime» etikettiert und hochgerechnet. Dies war die Voraussetzung für einen Antiislamismus, der durch rechtspopulistische Parteien befeuert wurde und heute, zehn Jahre später, zu einer politischen Kraft geworden ist, die ihre Mehrheitsfähigkeit behauptet und gerade in Frankreich mit dem Font National, anstrebt.

Damals wie heute ist die Pressefreiheit in unseren liberalen Rechtsstaaten nicht in Gefahr. So entsetzlich der Terroranschlag auf eine Wochenzeitung ist, er hebelt den französischen Rechtsstaat nicht aus. Die zivilisatorische Gefahr lauert woanders. Wer einen Blick unter den dünnen Firnis der Zivilisation hier bei uns werfen will, der schaut sich die Kommentarspalten in denjenigen Online-Angeboten an, die diese Kommentarspalten zu den Berichten aus Paris – erfahrungsgesättigt – nicht sogleich geschlossen haben. Hier tobt sie, die wahrgenommene islamistische Gefahr für das Abendland, die mit allen Muslimen in Bezug gesetzt wird, hier zeigt sich der dumpfe Antiislamismus, der Unterscheidungen nicht mehr machen will, um sich anhand des Anschlags in Paris selbst zu bestätigen. Dieser angeschwollene Antiislamismus aller Länder bei uns, in Europa, ist es, der von diesem Terroranschlag am meisten profitiert. Und wie die Antisemiten den Juden die Schuld für den Antisemitismus gaben, bestätigt sich dieser Antiislamismus durch dieselbe Zirkularität. Die katalytische Wirkung des islamistischen Terrors auf diese Zirkularität muss uns in erster Linie beunruhigen, wenn uns unsere zivilisatorischen Errungenschaften wichtig sind.

Kurt Imhof ist Soziologe. Seit 2000 ist er Professor 
für Soziologie und Publizistikwissenschaft an der 
Universität Zürich und Leiter des Forschungsinstituts Öffentlichkeit und Gesellschaft.

Abdruck des „Standpunkts“ in Tachles vom 09. Januar 2015. Mit freundlicher Bewilligung der Redaktion von Tachles, jüdisches Wochenmagazin.

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