Mit der Errichtung eines Denkmals für Deserteure und andere Opfer der NS-Militärjustiz („Deserteurdenkmal“), das Ende November fertiggestellt werden soll, will Hamburg eine lange Zeit nicht anerkannte Opfergruppe würdigen und stärker in das Bewusstsein der Öffentlichkeit rücken. Damit möchte sich die Hansestadt „endlich“ ihrer Verantwortung als bedeutender Standort der nationalsozialistischen Militärjustiz stellen und deren Opfer „angemessen gedenken“. Für die Realisierung des Gedenkortes stehen insgesamt 500.000 Euro zur Verfügung.
„Mit dem Denkmal wollen wir den Mut und die Zivilcourage der Menschen würdigen, die sich für Gerechtigkeit und die eigenen Grundrechte sowie die Rechte anderer Menschen eingesetzt haben“, betonte die Hamburger Kultursenatorin Professorin Barbara Kiesseler (parteilos) beim Auftakt zum Baubeginn des Deserteurdenkmals. Bereits am 14. Juni 2012 habe die Hamburger Bürgerschaft einen fraktionsübergreifenden Antrag zur Errichtung des Gedenkortes einstimmig verabschiedet. Bei einem Ideenwettbewerb entschied am 4. Juni 2014 das Preisgericht das Konzept des Hamburger Künstlers Volker Lang zur Realisierung vorzuschlagen.
Baubeginn Ende Juli
Der neue Gedenkort soll zwischen Stephansplatz und Dammtor entstehen. Dort befindet sich bereits das 1936 errichtete monumentale Kriegerdenkmal von Richard Kuöhl, das an die Soldaten des Infanterie-Regiments „Hamburg“ Nr. 76 erinnert. Es zeigt marschierende Soldaten mit geschultertem Gewehr und der heroischen Inschrift: „Deutschland muss leben und wenn wir sterben müssen.“ Gegenüber diesem „grauenhaften“ Denkmal, so die Kultursenatorin, befindet sich das unvollendete „Mahnmal gegen den Krieg“ des Wiener Bildhauers Alfred Hrdlicka von 1983-86.
Inmitten der beiden Objekte soll der neue Gedenkort entstehen, ein transparenter Baukörper mit einem gleichseitigen Dreieck im Grundriss. Es enthält Texte aus dem Stück „Deutschland 1944“ von Helmut Heissenbüttel (1921-1996), die an zwei der drei Wände aus bronzenen Schriftgittern gebildet werden sollen. Auch akustisch würden Texte vernehmbar sein. Laut Senatorin Kisseler werde mit dem Bau der Gedenkstätte Ende Juli begonnen. Es sei geplant, im Oktober die Bronzegitter zu installieren und im November die technischen Einbauten und die Lichtinstallation vorzunehmen. Der Gedenkort könnte Ende November 2015 fertiggestellt werden.
Künstler Volker Lang empfindet es als Auszeichnung, dass er diese Aufgabe verwirklichen darf. „Wegen der Gegebenheiten des Ortes erscheint es mir notwendig, eine Arbeit zu schaffen, die sich mit anderen Mitteln behauptet als die bereits vorhandenen beiden Denkmale.“
Ein Traum wird wahr
Für den ehemaligen deutschen Wehrmachtdeserteur und Friedensaktivist Ludwig Baumann (93), Vorsitzender der Bundesvereinigung Opfer der NS-Militärjustiz e.V. und gebürtiger Hamburger, sei „ein später Traum in Erfüllung“ gegangen“, sagte er zum Auftakt des Baubeginns. Er erinnerte an den Beschluss des Deutschen Bundestages vom 13. Mai 1997: „Der 2. Weltkrieg war ein Angriffs- und Vernichtungskrieg, ein vom nationalsozialistischen Deutschland verschuldetes Verbrechen.“
Als Fahnenflüchtiger zum Tode verurteilt und geächtet
Baumann schilderte aus eigener Erfahrung, was es bedeutet habe, ein Wehrmachtsdeserteur zu sein. Als 19-Jähriger wurde er zur Kriegsmarine eingezogen. Am 3. Juni 1942 desertierte er zusammen mit einem Kameraden bei Bordeaux in Frankreich, weil er erkannt habe, „dass es ein verbrecherischer, völkermörderischer Krieg war“. Am Tag der Desertion verhafteten ihn deutsche Grenzposten. Am 30. Juni 1942 wurde er wegen „Fahnenflucht im Felde“ zum Tod verurteilt. Davon, dass das Todesurteil in eine zwölfjährige Zuchthausstrafe umgewandelt wurde, erfuhr Baumann erst nachdem er Monate in Todesangst in der Todeszelle eines Wehrmachtsgefängnisses verbracht hatte. Er kam als Häftling ins KZ Esterwegen im Emsland und danach ins Wehrmachtsgefängnis Torgau. Er überlebte den Einsatz in einem Strafbataillon, in der sogenannten Bewährungstruppe 500, in besonders gefährdeten Abschnitten an der Ostfront.
Nach der Rückkehr aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft hatte er es schwer in einer Gesellschaft, in der Deserteure noch immer als „Feiglinge“ geächtet wurden. 1990 gründete er mit etwa 40 noch lebenden Wehrmachtdeserteuren sowie einigen engagierten Wissenschaftlern und Historikern die „Bundesvereinigung Opfer der NS-Militärjustiz“. Ziel der Vereinigung war eine Aufhebung der Unrechtsurteile gegen Deserteure, „Wehrkraftzersetzer“, „Kriegsverräter“, Selbstverstümmler und andere Opfer der NS-Militärjustiz durchzusetzen, sowie deren vollständige Rehabilitierung. Das wurde mit dem Änderungsgesetz vom 23. Juli 2002 und dem Zweiten Änderungsgesetz vom 24. September 2009 des Gesetzes zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile (NS-AufhG) von 1998 erreicht.
„Ein Beitrag für den Frieden“
Insgesamt seien laut Baumann während des Zweiten Weltkrieges über 30.000 Deserteure zum Tod verurteilt und davon rund 23.000 hingerichtet worden. Mehr als 100.000 von der NS-Militärjustiz verurteilte Soldaten hätten KZ, Straflager und Strafbataillon nicht überlebt. Erst in seinem Grundsatzurteil vom 16. November 1995 habe der Bundesgerichtshof die Wehrmachtjustiz als eine „Blutjustiz“ gebrandmarkt, „deren Richter sich wegen Rechtsbeugung in Tateinheit mit Kapitalverbrechen hätten verantworten müssen“. Doch nicht einer der Wehrmachtrichter sei in der Bundesrepublik Deutschland jemals bestraft worden. Der Friedensaktivist zeigte sich davon überzeugt, dass auch heute Kriegsverrat „ein Beitrag für den Frieden und eine gerechtere Welt“ wäre.
Gedenkstätte auch für Kriegsdienstverweigerer
Zu den „anderen Opfern der NS-Militärjustiz“ gehöre auch die Gruppe der Kriegsdienstverweigerer, die bereit gewesen sei, für ihre Überzeugung keine Waffe in die Hand zu nehmen, in den Tod zu gehen, erinnerte Holger Teubert (Ostfildern bei Stuttgart), Leiter des Referats Kriegsdienstverweigerung der Freikirche der Siebenten-Tags-Adventisten in Deutschland.
August Dickmann wurde als erster deutscher Kriegsdienstverweigerer im Zweiten Weltkrieg am 15. September 1939 öffentlich hingerichtet. Er war Zeuge Jehovas. Nach Angaben von Historikern wurden bis 1945 etwa 250 deutsche und österreichische Zeugen Jehovas vom Reichkriegsgericht wegen Kriegsdienstverweigerung zum Tode verurteilt und in der Regel durch das Fallbeil getötet.
Namentlich sind elf römisch-katholische Kriegsdienstverweigerer bekannt, die im Zweiten Weltkrieg hingerichtet wurden. Hermann Stöhr ist der einzige bekannte Christ einer evangelischen Landeskirche, der als Kriegsdienstverweigerer vom Reichskriegsgericht zum Tode verurteilt wurde.
Aus den Freikirchen wurden wegen Kriegsdienstverweigerung neun Adventisten, ein Baptist und ein Mitglied der Gemeinschaft der Christadelphian hingerichtet. Auch an sie erinnere der neue Gedenkort in Hamburg, so Teubert.