Eine Bilanz über die Freikirchenforschung in Deutschland zog der Verein für Freikirchenforschung (VFF) während seiner Herbsttagung vom 26. bis 27. September an der Theologischen Hochschule der Freikirche der Siebenten-Tags-Adventisten in Friedensau bei Magdeburg. Anlässlich des 25-jährigen Vereinsbestehens ging es um Rückschau, Gegenwartsbestimmung und Zukunftsperspektiven.
Katholische Kirche und Freikirchen
Der katholische Theologe Hans Gasper (Bonn) beleuchtete die Freikirchen aus römisch-katholischer Sicht. Er erinnerte an das Wort des Kirchenvaters Tertullian (gest. nach 220): „Man wird nicht geboren als Christ, Christ wird man.“ Johann Adam Möhler habe bereits 1832 in seinem Hauptwerk „Symbolik“ Respekt vor Methodisten und Pietisten gezeigt, obwohl er sie der Zeit entsprechend als „protestantische Sekten“ bezeichnete. Er schätzte an ihnen, dass sie auf ein christliches Leben Wert legten, das von Glaubenserfahrungen geprägt wird. Besonders aufgrund der Wiedervereinigung Deutschlands sei auch innerhalb der hiesigen römisch-katholischen Kirche bewusst geworden, dass in einer pluralistischen Gesellschaft die Menschen nicht mehr automatisch durch Geburt und Kindertaufe Christen würden. Viele Menschen hätten keinen Bezug mehr zum Christentum. Sie müssten eine eigene Entscheidung für den Glauben treffen. Dazu wäre eine bessere Kenntnis der Bibel notwendig, um mehr über den Glauben zu erfahren. Die Katholiken hätten die missionarische Dimension des Glaubens neu entdeckt, nämlich das Evangelium unter die Leute zu bringen. Hierin stimmten sie mit den Freikirchen überein. Papst Franziskus habe keine Berührungsängste gegenüber Evangelikalen, wie sein Besuch im Juli 2014 in der Pfingstgemeinde von Pastor Giovanni Traettino in Caserta/Italien zeige. Freikirchen würden aus katholischer Sicht nicht mehr zu den „Sekten“ gezählt.
Mut zur eigenen Geschichte
Dr. Johannes Hartlapp (Friedensau) sprach über „Adventistische Geschichtsforschung im Spannungsfeld von Selbst- und Fremdwahrnehmung“. Für Adventisten hätten Geschichte und Gegenwart immer zusammengehört. Dabei habe die Gefahr bestanden, die Geschichte der eigenen Freikirche zu verklären und sich selektiv mit der Geschichte zu befassen, um die eigene Identität zu bekräftigen. Das adventistische Archiv in Hamburg wurde 1943 durch einen Bombenangriff zerstört. Erst 1980 begann der Aufbau eines neuen „Historischen Archivs der Freikirche der Siebenten-Tags-Adventisten in Europa“, das heute seinen Sitz an der Theologischen Hochschule Friedensau hat. Dadurch sei ein offener Austausch über die eigene Geschichte ermöglicht worden. Der Mut zur eigenen Geschichte habe dazu geführt, dass die Freikirchenleitungen in Deutschland und Österreich 2005 in einer gemeinsamen Erklärung ein Schuldbekenntnis zur NS-Zeit ablegten. 2014 folgte von der deutschen Freikirchenleitung unter der Überschrift „Schuld und Versagen“ eine Erklärung anlässlich des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren.
Hunger nach Erfahrung
Der Pfarrer der bayerischen Landeskirche Dr. Moritz Fischer (Neuendettelsau) befasste sich mit der Pfingstkirchenforschung. Dabei gehe es nicht nur um die Pfingstgemeinden in Deutschland, sondern um die Erforschung der weltweiten Pfingstbewegung. Das sei auch wichtig, um die aus Migranten bestehenden Pfingstgemeinden in der Bundesrepublik in den Blick zu bekommen. Trotz Zersplitterung der Pfingstbewegung gebe es auch Gemeinsamkeiten, wie den „Hunger nach Erfahrung“, um den Glauben sichtbar zu machen. Auch die gottesdienstlichen Formen ähnelten sich. Zu beobachten sei zudem ein sozialer und bildungsmäßiger Aufstieg in der Gesellschaft, wenn sich jemand mit einer Pfingstgemeinde identifiziert.
Neue Freikirchen
Um die Erforschung „neuer“ Freikirchen ging es Dr. Reinhard Hempelmann (Berlin), dem Leiter der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen. Diese „neuen“ Freikirchen vom charismatisch-pfingstlichen und evangelikalen Typ grenzten sich von den sogenannten „klassischen“ Freikirchen ab. Da es nicht „die“ Freikirchen gebe, könne man auch nicht von „den“ neuen Freikirchen sprechen. Jede einzelne müsse für sich betrachtet werden.
Mit dem „Beitrag der Freikirchen zur neutestamentlichen Wissenschaft“ befasste ich der Methodist und Theologieprofessor Dr. Hermann Lichtenberger (Tübingen). Seine These: Die Universitäten in Deutschland seien offen bei der Promotion in evangelischer Theologie bei Methodisten, Mennoniten und Baptisten. Auch könnten Angehörige bestimmter Freikirchen sich im Fachbereich Theologie habilitieren. Die Aussprache ergab jedoch, dass es hierzu unterschiedliche Erfahrungen gibt.
Umfangreiche methodistische Geschichtsforschung
Dr. Michael Wetzel (Zwönitz/Erzgebirge) wies darauf hin, dass sich schon John Wesley (1703-1791), einer der Begründer der methodistischen Bewegung, mit der Kirchengeschichte befasst habe. Anfangs hätte die methodistische Geschichtsschreibung mit ihren Bekehrungsgeschichten mehr erbaulichen Charakter gehabt. Inzwischen gebe es eine Fülle wissenschaftlicher Bücher, Monografien und Artikel über die Geschichte der methodistischen Kirche. Das sei auch der „Studiengemeinschaft für Geschichte der Evangelisch-methodistischen Kirche (EmK)“ zu verdanken. Themen bei denen noch geforscht werden sollte, wären die Geschichte der Methodisten in der NS-Zeit und in der DDR. Wissenslücken gebe es auch in der Zeit nach 1945.
Zum Abschluss stellte Professor Dr. Frank Lüdke (Marburg) Perspektiven aus der Historiographie der Gemeinschaftsbewegung, dem sogenannten „Neupietismus“, vor. Professor Dr. Martin Rothkegel (Elstal bei Berlin), referierte über „Täufertum und Baptismus: Zwei freikirchliche Traditionen und ihre Historiographie“. Rothkegel stellte fest, dass das Täufertum, welches aus der Reformation des 16. Jahrhunderts hervorging, durchaus in Deutschland in die akademische Forschung einfließe, wenn auch nicht mit einem eigenen Lehrstuhl. Das sei jedoch beim Baptismus nicht der Fall, der erst seit 1834 in Deutschland vertreten ist.
Die in Friedensau gehaltenen Referate werden im VFF-Jahrbuch dokumentiert, das 2016 erscheinen soll.