Campus der adventistischen Middle East University MEU, Beirut/Libanon © Foto: Amy Giroux

Ungewisse Zukunft des Protestantismus im Nahen Osten

Stuttgart/Deutschland | 11.07.2016 | APD | International

Mit den reformatorischen Spuren im Nahen Osten befasste sich Ende Juni eine internationale Konferenz im Libanon. Unter dem Titel „The Protestant Reformation 500 Years Later in Germany and Lebanon“ (Die protestantische Reformation 500 Jahre danach in Deutschland und im Libanon) diskutierten rund 60 evangelische und nicht-evangelische Christen aus dem Libanon und aus Deutschland, sowie Vertreter des Islam vom 24. bis 27. Juni an der Near East School of Theology (NEST), eine von vier protestantischen Kirchen getragene Hochschule in Beirut.

Protestantismus im Nahen Osten noch sehr jung
Wie aus dem Bericht der Evangelischen Mission in Solidarität (EMS), Stuttgart/Deutschland, ein Zusammenschluss von 23 Kirchen und fünf Missionsgesellschaften in Asien, Afrika, dem Nahen Osten und Europa, über die Konferenz hervorgeht, sei der Protestantismus im Nahen Osten noch sehr jung. Erst Mitte des 19. Jahrhunderts hätten evangelische Missionare aus den USA und Europa das reformatorische Gedankengut in die orientalischen Gesellschaften gebracht. Zudem gründeten sie Schulen sowie Universitäten und bauten Krankenhäuser. „Reformation bedeutet für uns ein grossartiges Erbe, gerade im Hinblick auf die Errungenschaften im Bildungs- und Sozialbereich”, sagte George Sabra, der Präsident der NEST. „Doch was wird unser Beitrag in Zukunft sein?“

Den Blick auf das reformatorische Erbe richtete der Bischof der Evangelischen Kirche in Baden, Jochen Cornelius-Bundschuh, der den Einfluss von Religion in modernen Gesellschaften analysierte. „Angesichts von religiösen Konflikten beten wir, dass wir durch die Macht der Gnade erneuert werden und zur gesellschaftlichen Transformation durch Versöhnung und Brückenbauen beitragen. Die Macht der Religion basiert nicht auf unserer erschöpflichen, menschlichen Kraft, sondern darauf, dass Gott vorausgehend ‚Ja‘ zu uns gesagt hat. Deswegen ist das Evangelium eine unerschöpfliche Kraftquelle“, betonte Cornelius-Bundschuh.

Evangelische Kirchen leiden unter Auswanderung
Die Frage nach der Zukunft des Protestantismus im Nahen Osten sei aktueller denn je. Die dortigen evangelischen Christen wären nur eine sehr kleine Minderheit und stark vom Phänomen der Emigration betroffen. Sie hätten in der Regel eine sehr gute Ausbildung und gute Kontakte in den Westen. Entsprechend leicht falle es ihnen, in einer westlichen Gesellschaft Fuss zu fassen. „Unsere historischen, theologischen und liturgischen Wurzeln liegen nicht im Orient, sondern im Westen“, sagte George Sabra, der die Beziehungen zum Westen zum einen als Segen bezeichnete. In der Fremdwahrnehmung durch nicht-evangelische Christen stelle dies aber manchmal ein Problem dar. „Viele fragen sich, ob wir nicht doch Westler oder gar Fremde hier sind. Und manche sehen in uns einen Fehler des Westens in der nahöstlichen Kirchengeschichte.“

Westlicher Import
Wie sehr die einheimischen katholischen, orthodoxen und altorientalischen Kirchen den aufkommenden Protestantismus im 19. Jahrhundert als westlichen Import wahrgenommen hätten, sei in den Beiträgen der nicht-protestantischen Redner deutlich geworden, so die EMS. „Die Missionare haben keine orientalischen neuen Kirchen gegründet, sie haben neue westliche Kirchen importiert, haben westliche Sprachen in ihre Liturgie übernommen“, sagte der maronitische Priester Gaby Hachem, der an der Université du Saint Esprit in Kaslik (Libanon) Theologie lehrt. Serj Boghos Tinkjian, stellvertretender Dekan des Armenisch-orthodoxen Seminars in Bikfaya, wies darauf hin, dass die westlichen Missionare die einheimischen Kirchen als Missionsfeld betrachtet hätten. „Es wäre vermutlich besser gewesen, wenn der evangelistische Eifer sich darauf konzentriert hätte, die lokalen Kirchen zu reformieren und nicht neue zu gründen.“ Durch ihr Vorgehen hätten die Missionare zum Teil viel Zwietracht in der Gesellschaft und selbst in Familien gesät.

Dass die Missionare im 19. Jahrhundert nicht vorurteilsfrei den einheimischen Kirchen gegenüber aufgetreten seien, beschrieb der rum-orthodoxe Priester Rami Wannous. „Man machte sich lustig darüber, dass wir Ikonen küssen, beschuldigte uns der Bilderanbetung und verurteilte den Marienkult“, sagte er. „Für protestantische Missionare waren wir Orthodoxe der Grund, warum Muslime noch nicht zum Christentum gefunden hatten.“

Protestanten öffneten „neue Türen“ in der Theologie
Hachem, Tinkjian und Wannous machten laut EMS aber auch deutlich, dass die evangelische Mission auch positive Auswirkungen auf ihre Kirchen hatte. So seien beispielsweise in der rum-orthodoxen und der Armenisch-Apostolischen Orthodoxen Kirche die theologischen Diskussionen bereichert worden. Die zentrale Rolle, welche die Bibel für Protestanten spiele, oder die Betonung von Diakonie und Bildung hätten auch auf die armenische Kirche ausgestrahlt und „neue Türen in der Theologie geöffnet. Die Auseinandersetzung mit der Reformation hat unsere Kirche gestärkt”, sagte Tinkjian. Alle drei bezeichneten die heutige Aufsplitterung der wenigen Protestanten in viele verschiedene Gruppen, darunter auch charismatische oder pfingstlerische, als problematisch für die Ökumene. „In dieser Vielfalt können wir keine Einheit mehr erkennen“, unterstrich Wannous. Hachem von der maronitischen Kirche riet deswegen den Kirchen der Reformation, genau auf diesem Feld eine führende Rolle gegenüber den evangelikalen und nicht-ökumenisch orientierten Bewegungen zu spielen und diese in die nahöstliche Ökumene zu führen.

Grossmufti: „Den Geist der Liebe predigen“
Insgesamt hänge die Zukunft aller Christen im Nahen Osten aber vor allem davon ab, wie sich die Region insgesamt entwickle. Das sei auch vielen Muslimen bewusst. Für eine Erneuerung des religiösen Diskurses plädierte deswegen der Grossmufti des Libanon, Scheich Abdul Latif Daryan bei einem Empfang der Konsultationsteilnehmer im Dar el-Fatwa, der obersten sunnitischen Religionsbehörde im Libanon. „Wir wollen keinen religiösen Diskurs, der auf Hass und Fundamentalismus aufbaut.“ Kirchliche Schulen lehrten die Werte des christlichen Glaubens und islamische Schulen die des Islam. „Gemeinsam haben wir die Aufgabe, den Geist der Liebe, der in beiden Religionen zentral ist, zu predigen.“

Die Tagung war die 5. Internationale Konsultation, welche die NEST zusammen mit dem Programm „Studium im Mittleren Osten“ (SiMO) organisiert hat. SiMO ist bei der Evangelischen Mission in Solidarität (EMS) angesiedelt und gibt Studierenden die Möglichkeit, ein ökumenisches Studienjahr an der NEST in Beirut zu verbringen. Dabei lernten sie die Kirchen im Nahen Osten in ihrem islamischen Kontext kennen. Nicht nur angehende Theologinnen und Theologen könnten davon profitieren, auch Studierende der Islamwissenschaft, Geschichte, Politikwissenschaft und anderer verwandter Fächer, könnten sich bei der EMS bewerben. Weitere Informationen unter www.ems-online.de

Im Osmanischen Reich war jeder Vierte ein Christ
„Gut ein Viertel der Bevölkerung des damaligen Osmanischen Reiches bekannte sich bis 1914 zum Christentum, heute sind es in der Türkei nur noch wenige zehntausend“, kommentierte Holger Teubert, stellvertretender Pressesprecher der Freikirche der Siebenten-Tags-Adventisten, die internationale Konferenz in Beirut. Er beziehe sich dabei auf Untersuchungen von Dr. Daniel Heinz, dem Leiter des Historischen Archivs der Siebenten-Tags-Adventisten in Europa mit Sitz an der adventistischen Theologischen Hochschule Friedensau bei Magdeburg. Es mag bedauerlich erscheinen, dass durch das Auftreten des Protestantismus im 19. Jahrhundert die Kirchen im Orient sich noch mehr zersplitterten, doch der dortige drastische Rückgang der Christen habe zudem eine häufig nicht beachtete andere Ursache.

Auch Protestanten wurden verfolgt
„Um ein Auseinanderbrechen des Osmanischen Reiches zu verhindern, sei Ende des 19. Jahrhunderts der Islam zur Staatsideologie erhoben worden und die Christen hätten als Feinde des Reiches gegolten“, so Daniel Heinz. Doch nicht nur Armenier seien davon betroffen gewesen, sondern auch Christen aramäischer, chaldäischer, assyrischer und griechischer Herkunft, dazu Katholiken und Protestanten. Dabei wäre es um die Schaffung eines neuen türkisch-islamischen Nationalstaates gegangen. Die unter dem osmanischen Sultan Abdul Hamid II. seit 1894 zunehmenden Massaker an Armeniern und anderen Christen im Osmanischen Reich hätten während des Ersten Weltkriegs mit der Deportation in die syrische Wüste ihren Höhepunkt erreicht. Schätzungen zufolge verloren laut Heinz mehr als 1,5 Millionen Christen zwischen 1894 und 1922 in Kleinasien ihr Leben.

Todesstoss auch für Adventisten
Was das für die dortigen Protestanten bedeutete, machte der Leiter des Historischen Archivs am Beispiel der Siebenten-Tags-Adventisten deutlich. Seit 1889 habe die Freikirche im Osmanischen Reich, zu dem damals ausser der Türkei auch Syrien, Palästina, der Irak und Arabien gehörten, missioniert. Doch das Vorgehen der jungtürkischen Bewegung gegen die Christen hätte auch ihren Gemeinden den Todesstoss versetzt. Nahezu 250 der knapp 450 Adventisten, die meisten armenischer Abstammung, wären laut Heinz damals auf grausame Weise umgekommen. Einige hätten nach Syrien, in den Libanon, nach Ägypten, in die Sowjetunion oder nach Griechenland fliehen können. Nur wenigen sei es gelungen in die USA oder nach Frankreich zu emigrieren. Nach dem Genozid habe es nur noch etwa 100 Adventisten in der Türkei gegeben, zumeist in und um Istanbul lebend, von denen jedoch die meisten in den darauffolgenden Jahrzehnten auswanderten.

Über dreissigmal inhaftiert
Von Anfang an sei die adventistische Mission im Osmanischen Reich verboten gewesen, so der Archivleiter. Verfolgung und Unterdrückung von Adventisten, deren einheimischen Buchevangelisten und Pastoren hätten auf der Tagesordnung gestanden. Dzadur G. Baharian, der Mitbegründer und „Vater“ der adventistischen Mission im Osmanischen Reich, sei im Laufe seines 23-jährigen Missionsdienstes über dreissigmal inhaftiert worden, bevor er im Juli 1915 den Märtyrertod starb. Er wurde – so der Bericht eines am Mord beteiligten Augenzeugen – in Anatolien bei Sivas von kurdischen Milizionären umgebracht. Er sollte Christus abschwören und auf der Stelle zum Islam konvertieren. Als sich der Missionar widersetzte und die Hände zum Gebet faltete, sei er erschossen worden.

Doch bereits 1909 habe die Ermordung von mindestens sieben namentlich bekannten Adventisten und einiger ihrer Kinder in der Region Adana die Mitglieder der Freikirche erschüttert. Wie viele Adventisten damals ums Leben kamen bleibe ungewiss, so Heinz. Das Massaker im Gebiet von Adana hätte etwa 20.000 armenische Todesopfer gefordert.

Annahme des Islam oder Todesmarsch
In das Bild eines religiös gefärbten Genozids, an dem ausschliesslich Muslime beteiligt gewesen seien, passe die Tatsache, dass besonders viele christliche Geistliche den Tod gefunden hätten, erläuterte Daniel Heinz. Auch adventistische Pastoren wären vor die Wahl gestellt worden, den Islam anzunehmen oder den Todesmarsch anzutreten, der mit dem Hungertod in der syrischen Wüste bei Deir ez-Zor endete, wenn man nicht schon vorher massakriert wurde oder an körperlicher Erschöpfung starb. Von diesen adventistischen Pastoren sei ausdrücklich überliefert, dass sie ihren christlichen Glauben öffentlich bekannt und mit ihrem Leben bezahlt hätten. Von zwölf adventistischen Buchevangelisten hätten lediglich zwei die Verfolgung überlebt. „Adventistische Waisenkinder, deren Eltern umgebracht worden waren, fielen der Zwangsislamisierung zum Opfer und wurden im Gesicht mit türkisch-muslimischen Brandmalen verunstaltet“, so Heinz.

Geringe Zahl von Adventisten in Vorderasien
Dass auch Protestanten von dem damaligen Genozid betroffen waren, sei meist unbekannt. Daher wäre es notwendig dies mit zu berücksichtigen, wenn es um den Protestantismus im Nahen Osten gehe. Die Verfolgung zwischen 1894 und 1922 habe auch unter Protestanten ihre Spuren hinterlassen, wie die heutige geringe Zahl der Adventisten im Gebiet des früheren Osmanischen Reiches zeige.

Die Verfolgungen im Osmanischen Reich hätten nicht nur die überlebenden Adventisten traumatisiert. Der Genozid habe ebenso Auswirkungen auf nachfolgende Generationen gehabt, sodass auch für die Freikirche der Siebenten-Tags-Adventisten in Vorderasien die Auswanderung ein Problem darstelle, gab Daniel Heinz zu bedenken.

Adventisten in der Türkei
Gegenwärtig gebe es in der Türkei nur noch 109 Siebenten-Tags-Adventisten. Die meisten kämen aus der Republik Moldau, der Ukraine und aus Russland, weil sie im Land Arbeit gefunden hätten, informierte Holger Teubert. Die verbliebenen armenisch-stämmigen Adventisten wären schon vor etlichen Jahren in die USA ausgewandert.

Adventisten in Syrien
Die syrische Armee erlitt im Juni 1967 bei der Eroberung der Golanhöhen durch Israel im sogenannten „Sechs-Tage-Krieg“ eine Niederlage. Danach sei die einzige adventistische Gemeinde in Syrien, die Adventgemeinde Damaskus, von den Behörden geschlossen worden, so Teubert. Man habe die Adventisten als Sympathisanten wenn nicht gar als Spione der Israelis angesehen. Die wenigen adventistischen Familien in Damaskus und Umgebung wären daraufhin in die USA oder nach Kanada ausgewandert. Seitdem gebe es keine Adventgemeinde mehr in Syrien. Hin und wieder sei ein Adventist als Angestellter einer ausländischen Firma in das Land gekommen um dort für begrenzte Zeit zu arbeiten, doch regelmässige Gottesdienste fänden nicht mehr statt.

Adventisten im Libanon
Im Libanon lebten gegenwärtig 282 Siebenten-Tags-Adventisten. Die Freikirche unterhalte dort seit 1939 in Beirut die Middle East University mit 214 Studierenden und 35 Dozenten sowie den vier Fachbereichen Biologie und Informatik, Betriebswirtschaft, Pädagogik sowie Religion und Theologie. Ausserdem gebe es an der Hochschule ein Englisches und Arabisches Sprachinstitut. Zudem verfügten die Adventisten im Libanon über ein Verlagshaus und ein Medienzentrum mit Aufnahmestudios für Radio- und TV-Sendungen.

Adventisten im Irak, in Jordanien und in der Golfregion
Im Irak, wo die erste adventistische Gemeinde 1923 gegründet wurde, gebe es laut Teubert nur noch 96 Adventisten. Die meisten Mitglieder seien wegen der instabilen Lage im Land hauptsächlich nach Nordamerika ausgewandert. In Jordanien würden 179 Adventisten leben. Die erste adventistische Gemeinde sei dort 1926 gegründet worden. Bei den 1.354 Adventisten in den 14 Kirchengemeinden der Golfstaaten handele es sich fast ausschliesslich um ausländische Staatsbürger, die dort vorübergehend arbeiteten, informierte Holger Teubert.

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