Religiös motivierte Übergriffe auf christliche Flüchtlinge finden bundesweit in deutschen Asylunterkünften statt. Zu diesem Schluss kommt der zweite Lagebericht des deutschen Zweigs von Open Doors und weiteren Hilfsorganisationen, die diese Erhebungen vornahmen. Auch in der Schweiz komme es zu religiös motivierten Übergriffen auf Asylsuchende, wie das Hilfswerk Open Doors Schweiz in einer Medienmitteilung schreibt.
Das deutsche Büro von Open Doors legte an einer Pressekonferenz in Berlin am 17. Oktober einen neuen Lagebericht zu religiös motivierten Übergriffen in deutschen Asylunterkünften vor. Dazu seien im Zeitraum von Mai bis September Gespräche von verschiedenen Hilfswerken mit hunderten Flüchtlingen im gesamten Bundesgebiet geführt worden.
Neu seien dabei religiös motivierte Übergriffe auf 512 christliche sowie 10 jesidische Flüchtlinge in deutschen Asylunterkünften dokumentiert worden. Die Hilfswerke appellieren - nach der Veröffentlichung des ersten Lageberichts vom 9. Mai mit 231 erfassten Übergriffen - erneut an Politik und Behörden, wirksamen Schutz für christliche Flüchtlinge und Angehörige anderer religiöser Minderheiten zu gewährleisten.
Religiös motivierte Übergriffe auch in der Schweiz ein Thema
Laut der Beratungsstelle Integrations- und Religionsfragen (BIR) der Schweizerischen Evangelischen Allianz (SEA) seien auch in der Schweiz Fälle religiös motivierter Übergriffe vorgekommen. „Nichtmuslime leiden - vor allem jene, die vom Islam zum christlichen Glauben konvertiert sind - in Schweizer Flüchtlingszentren. Im Kanton Bern wurden zwei afghanische Christen massiv von Muslimen bedroht. In der Ostschweiz befasste sich die BIR mit dem Fall eines konvertierten jungen Flüchtlings, der in der Schule massivem Mobbing vonseiten muslimischer Mitschüler ausgesetzt war“, sagte Linus Pfister, Präsident der Arbeitsgemeinschaft für Religionsfreiheit der SEA:
„Ich habe nie erwartet, dass so etwas in Deutschland geschieht“
Viele der betroffenen Flüchtlinge hätten bereits in ihren islamischen Herkunftsländern Verfolgung und Diskriminierung erlebt und seien deshalb nach Deutschland geflohen, heisst es in der Medienmitteilung von Open Doors. Die in den Herkunftsländern vorherrschende Bedrängung erlebten religiöse Minderheiten in deutschen Flüchtlingsunterkünften eins zu eins wieder. Ein Flüchtling aus dem Iran, der in der Erhebung der Hilfswerke erfasst worden sei, habe sich in seiner Unterkunft mit folgendem Schriftzug an der Wand konfrontiert gesehen: „Es ist Zeit, allen Christen den Kopf abzuschneiden.“ Der Fall sei aktenkundig, so Open Doors. „Ich war erschrocken! Ich habe nie erwartet, dass so etwas in Deutschland geschieht“, sagte der schockierte Flüchtling. „Das hat mein Vertrauen erschüttert.“
Zahlen und Fakten – Mangelnder Schutz religiöser Minderheiten
An der Erhebung beteiligten sich neben dem deutschen Zweig von Open Doors die Hilfsorganisationen Aktion für verfolgte Christen und Notleidende (AVC), Europäische Missionsgemeinschaft (EMG) sowie der Zentralrat Orientalischer Christen in Deutschland (ZOCD).
Bereits nach dem ersten Lagebericht vom 9. Mai sprachen die Hilfswerke von „der Spitze des Eisbergs“. Die Vielzahl neu erfasster Übergriffe belege ein bundesweites Problem, bei dem selbst die 743 betroffenen Flüchtlinge immer noch die Spitze des Eisbergs darstellten, so die Hilfswerke.
Laut Open Doors Deutschland berichteten von 743 Betroffenen 617 (83 Prozent) von mehrfachen Übergriffen, 314 (42 Prozent) von Todesdrohungen, 416 (56 Prozent) von Körperverletzungen, 44 (6 Prozent) von sexuellen Übergriffen. Bei den Übergriffen seien oft mehrere Personengruppen beteiligt gewesen. Demnach hätten sich bei 674 Fällen muslimische Mitflüchtlinge übergriffig verhalten, bei 205 Fällen sei Wachpersonal mit muslimischem Hintergrund beteiligt gewesen und 254 Übergriffe seien von anderen Personen ausgegangen. Mangelnde Hilfe seitens Wachdienste, Heimleitung sowie Behörden habe nicht selten die Situation der Betroffenen verschärft, so das Hilfswerk.
De Maizière: „Wir haben die Bedeutung von Religion unterschätzt.“
Die Berichte der betroffenen Flüchtlinge machten deutlich, dass die Übergriffe religiös motiviert seien. Die Täter fühlten sich geleitet oder getrieben von einem Wertesystem, das sie in ihren Herkunftsländern verinnerlicht hätten und das für sie „göttliche Autorität“ habe, so Open Doors.
„Wir haben die Bedeutung von Religion unterschätzt“, sagte Bundesinnenminister Thomas de Maizière im Rahmen des „Zukunftskongresses Integration und Migration“ am 20. September mit Rückblick auf die letzten Monate. Das Hilfswerk beklagt, dass noch zu wenige der verantwortlichen Politiker und Kirchenleiter seine Sicht teilten.
Behörden und Heimleitung gewährleisteten Schutz
In einer Erstaufnahmeeinrichtung hätten nach Angaben von Open Doors 32 christliche Flüchtlinge, von gewaltsamen Übergriffen und Morddrohungen gegen sie zu berichten gewagt, nachdem ihnen Mitarbeiter des Regierungspräsidiums, der Polizei und der Heimleitung Schutz zugesichert hätten. Heimleitung und Behörden hätten ihren Schutz durch eine getrennte Unterbringung und die Zuordnung von Wachpersonal und Dolmetschern mit christlicher Prägung sichergestellt.
Warnung vor Instrumentalisierung der Erhebung
Die neue und erweiterte Erhebung gebe verantwortlichen Politikern und Kirchenleitern eine solide Bewertungsgrundlage an die Hand, um dringend erforderliche Schutzmassnahmen zur Einhaltung der Menschenrechte in Deutschland zum Schutz aller Flüchtlinge – religiöse Minderheiten eingeschlossen – einzuleiten, so das Hilfswerk.
„Wer die Ergebnisse dieser neuen Erhebung für politische Zwecke oder für die eigene Profilierung missbraucht, wer hier eine pauschale Verurteilung von Muslimen hineinlesen möchte, handelt politisch und gesellschaftlich unverantwortlich“, sagte der geschäftsführende Vorstandsvorsitzende von Open Doors Deutschland, Markus Rode.
Die Forderungen der vier Organisationen an die deutsche Regierung sowie ausführliche Analysen können in der 80-seitigen Erhebung „Mangelnder Schutz religiöser Minderheiten in Deutschland“ nachgelesen werden:
https://www.opendoors.de/fluechtlingsbericht