Flyer zur Tagung – Gestaltung: Marielle Lüthy, Neue Kantonsschule Aargau © Foto: Herbert Bodenmann/APD Schweiz

Verschwörungstheorien - "Wer nichts mehr glaubt, glaubt am Ende alles."

Zürich/Schweiz | 12.11.2018 | APD | Schweiz

Am 9. November veranstaltete die Kommission Neue religiöse Bewegungen des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes (NRB/SEK), in der Bullingerkirche, evangelisch-reformierte Kirche Hard, Zürich, eine Tagung zu Verschwörungstheorien. Sie stand unter dem Thema: «Verschwörungstheoretiker, Reichsbürger, Staatsverweigerer als Herausforderung für Kirche und Gesellschaft». Die Referenten und Workshopleiter gingen die Thematik aus psychologischer, soziologischer und theologischer Perspektive an. Verschwörungstheoretiker bedienten sich zwar wissenschaftlichen Jargons, liessen sich aber mit rationalen Argumenten von ihrem Verschwörungsglauben nicht abbringen, weil ihnen ihre Weltsicht in einer komplexen Welt Durchblick, Halt und Sicherheit biete. Deshalb verbreiteten sie ihre Theorien mit missionarischem Eifer: «Die Argumentation wird für sie zur Glaubensfrage», heisst es im Flyer zur Veranstaltung.

In ihrem Grusswort an die rund 60 Teilnehmenden sagte Ruth Pfister, Mitglied des Rates des SEK, dass die Tagung Christen einlade, neu über den Auftrag der Kirche nachzudenken. Ohnmacht sei eine der Erfahrungen, weshalb Menschen für Verschwörungstheorien offen seien. Sie könnten dadurch die komplex erlebte Wirklichkeit auf Übersichtliches reduzieren. Zudem erleichtere das Internet die Verbreitung der Verschwörungstheorien. Zukunftsangst dürfe Christen nicht lähmen. Christen glaubten an einen Schöpfergott, der «uns ans Ziel bringt», so Pfister.

Verschwörungstheorien eine säkularisierte Form von Aberglauben?
Verschwörungsgläubige legten einen missionarischen Eifer an den Tag, wenn es um die Verbreitung ihrer Theorien gehe, sagte Dieter Sträuli, Psychologe und Vorstandsmitglied von infoSekta. Er fragte, ob Verschwörungstheorien eine säkularisierte Form von Aberglauben seien, eine Art von Ersatzreligion. Sträuli erläuterte, dass Verschwörungstheorien und die Sektendynamik ihre Wurzeln in der Subjektstruktur einer Person hätten. Es sei deshalb auch eine Aufgabe der Eltern, ihre Kinder zu frustrieren, da die Vorstellung eines «totalen bzw. vollkommenen Geniessens», äusserst gefährlich sei und einen sehr hohen Preis haben könne, so der Psychologe. Der Glaube an Verschwörungstheorien könne eine Form des totalen Geniessens sein.

Wie lassen sich Verschwörungstheorien gesellschaftlich erklären?
Christian Ruch, Historiker und Soziologe, definierte in seinem Workshop eine Verschwörung als eine Handlung von mindestens zwei Personen, die sich im Verborgenen auf ein Ziel einigen, das nur im Verborgenen erreicht werden kann und oft die Veränderung der Machtstruktur zum Ziel hat. Verschwörungstheorien seien keine Erscheinung der Neuzeit, so Ruch. 1348 seien die Juden im Zusammenhang mit der Pest, der Brunnenvergiftung bezichtigt und verfolgt oder «Hexen» seien für Missernten verantwortlich und umgebracht worden. Neu sei heute die Verbreitungsgeschwindigkeit von Verschwörungstheorien.

Dass Verschwörungstheorien zunehmend auftreten würden, bezeichnete Ruch als «Symptome von Unsicherheit und Angst» in Krisenzeiten. Das gesellschaftliche Urvertrauen in die Institutionen sei am Schwinden und mache einem Urmisstrauen Platz. Hinzu komme, dass das Mehr an Wissen eine hochkomplexere Lebenswelt und Gesellschaft schaffe, was diese kaum durchschaubar mache. Hochkomplexe Systeme seien autopoietisch, sie steuerten und erhielten sich selbst. Menschen funktionierten aber subjekt-logisch: Jemand müsse als Handelnder verantwortlich sein. Anhänger von Verschwörungstheorien seien hyperrational, weil sie überall Sinn und Absicht sehen würden und auch in zufälliges Geschehen Absicht hineininterpretierten, so der Soziologe. «Verschwörungstheoretiker kennen keinen Zufall», erklärte Ruch. Auch die Kontingenz werde von Verschwörungstheoretikern geleugnet, dass es also verschiedene Erklärungs- bzw. Deutungsmöglichkeiten geben könne.

Staatsverweigerer in der Schweiz und ihre Vernetzung mit Sekten
Staatsverweigerer lehnten staatliche Strukturen ab, sagte Raimond Lüppken, freier Journalist, in seinem Workshop. Begründet werde dies damit, dass Gesetze für «Personen» gemacht, sie aber «Menschen» seien. Er erwähnte zur Illustration die Reichsbürger in Deutschland und «Anastasia», eine in Russland gegründete New-Age-Bewegung, die von InfoSekta, schweizerische Fachstelle für Sektenfragen, als problematisch eingestuft wird, da sie «eine stark nationalistische, verschwörungstheoretische und rechtsesoterische Ausrichtung» besitze (Wikipedia). Viele Staatsverweigerer lehnten es ab als Rassisten bzw. Antisemiten bezeichnet zu werden. Sie seien Ethnopluralisten, die für die kulturelle Reinerhaltung von Gesellschaften eintreten würden und die Vermischung der Ethnien ablehnten. Laut Lüppken lehnten viele Staatsverweigerer auch das Impfen ab, seien gegen staatliche Schulen, setzten sich für die klassische Rollenverteilung von Mann und Frau ein und hätten Angst vor «Umvolkung», wie dies durch die «Flüchtlingsströme», die gelenkt seien, geschehen sei.

Im Sinnlosen Sinn finden?
Im zweiten Referat der Tagung beschäftigte sich Dr. Matthias Pöhlmann, Theologe sowie Sekten- und Weltanschauungsbeauftragter der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD) mit theologischen Unterscheidungskriterien zum Verschwörungsglauben.

Für Pöhlmann handelt es sich beim Verschwörungsglauben um eine globalisierte Version einer Religion. Zufall und Chaos in der Welt schaffe Unerklärliches, womit sich Verschwörungsgläubige nicht abfinden wollten und Schuldige bzw. Sinn (Welterklärung und Gesetzmässigkeiten) suchten: Es handle sich dabei um die Verweltlichung eines Aberglaubens und die Verschwörungstheorie werde zu einer Ideologie, so der EKD-Kirchenrat. Davon könne auch der christliche Fundamentalismus oder der katholische Traditionalismus betroffen sein. Es werde von einer «neuen Weltordnung» gesprochen, die eine globale Elite am Etablieren sei. Verschwörungsmythen entstünden, wenn Menschen keine Teilhabe mehr an Entscheidungsprozessen hätten bzw. Regierende und Regierte sich voneinander entfernten.

Verschwörungsgläubige sähen sich laut Pöhlmann als Wissende und Aufgeweckte, die Mehrheit der Bevölkerung als Unwissende. Da es für sie keinen Zufall geben würde, erklärten sie das Böse mit skrupellosen Verschwörern. Verschwörungstheorien seien selbstimmunisierend, verallgemeinernd - alle sind böse - und gefährlich, da sie Sündenböcke suchten: Judenverfolgung bzw. Hexenverbrennungen.

Der Theologe bezeichnet den Verschwörungsglauben als eine «schlecht säkularisierte Theologie». Die Theodizee, also die Frage nach der Gerechtigkeit bzw. Rechtfertigung Gottes, bezüglich des Bösen in der Welt, werde auf Menschen als Bewirker umgemünzt und erklärt. Es werde nicht mehr gefragt, weshalb Gott dies oder jenes zulasse, sondern: ‘Weshalb passiert mir dies?’ und dann werde ein Sündenbock gesucht. Verschwörungsgläubige verstünden sich als Aufklärer einer hinters Licht geführten Bevölkerung, agierten äusserst missionarisch, wobei sich das Internet als idealer Multiplikator anbiete, sagte der Theologe.

Demnach bestehe für Christen eine zweifache Aufgabe im Umgang mit Verschwörungsgläubigen. Man müsse den Dialog suchen und die «Geister unterscheiden». Es brauche sowohl eine religions- und weltanschauliche Aufklärung als auch Seelsorge, so Pöhlmann. Es brauche «Götzenkritik» an dieser säkularisierten Ideologie, weil der Verschwörungsglaube eine «Vergöttlichung des Weltlichen» und damit eine Übertretung des ersten Gebots sei. Es handle sich damit um einen «versekteten Verschwörungsglauben», der auf Täuschung fusse und zu Enttäuschung führe. Es gehe dabei immer auch darum, die Ängste und Motive des Verschwörungsglaubens ins Auge zu fassen, um Menschen entsprechend zu begleiten und den Austritt zu ermöglichen, sagte Pöhlmann.

Dass bei gewissen Menschen aus einer Verschwörungstheorie ein Ersatzglaube werden kann, fasste Matthias Pöhlmann am Schluss des Podiumsgesprächs so zusammen: "Wer nichts mehr glaubt, glaubt am Ende alles."

Referenten
Raimond Lüppken, freier Journalist, Berlin/Winterthur; Dr. phil. Dieter Sträuli, Psychologe, Vorstandsmitglied von infoSekta und des Lacan Seminars Zürich; Dr. Matthias Pöhlmann, Sektenbeauftragter, München; Dr. phil. Christian Ruch, Historiker/Soziologe, Chur; Colin Schatzmann und David Eugster, Gymnasiallehrer.

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