Lüneburg/Deutschland | 09.05.2022 | APD | Buchrezension: „An den Grenzen der Musse“; Jochen Gimmel/Thomas Jürgasch/ Andreas Kirchner, Verlag Mohr-Siebeck, 2021, 186 Seiten, Gebundenes Buch: 19,00 Euro, 25,90 CHF, Ebook/Kindle: 19,00 Euro, ISBN-10: 3161601432, ISBN-13: 978-3161601439
Musse ist ein schillernder Begriff, unscharf, schwer fassbar und doch nicht ohne Attraktivität. In sechs Essays nähern sich die drei Autoren auf etwa 180 Seiten der Musse und stellen diese zu anderen Begriffen in Relation. Dabei sind die vorliegenden Texte nicht als systematische Abhandlung oder als eine „geglättete Übereinkunft“ anzusehen, sondern wollen sich durch unterschiedliche Perspektiven und Fragestellungen zum Thema kontrastieren und ergänzen. Die Essaysammlung soll deshalb den Begriff nicht endgültig bestimmen, sondern will als „Bilderbuch der Musse“ verstanden werden, das zum Nachdenken anregen und Lust machen soll, praktisch Selbstversuche zum Themenkreis zu starten.
Zum Inhalt
Das erste Essay ist der theoretischen Reflexion und der konstellativen Begriffsarbeit gewidmet. Das zweite Essay zeigt unter Verwendung von antiken Quellen die Bezüge zum Spiel und darauf aufbauend zum Rausch auf. Im dritten Essay wird die Musse in Beziehung zur Mönchskrankheit der Akedia (Trägheit) gesetzt, die durchaus als Kehrseite der Musse verstanden werden kann. Auch Bezüge zur „Leisure-sickness“ heutiger Tage sind zu erkennen. Das vierte Essay versucht, die Musse als nachdenkenswertes Gegenmodell moderner Zeitnot und ökologischen Zukunftssorgen gegenüberzustellen. Der nächste Text thematisiert erneut die Mönche im frühen Christentum, um die Schwierigkeit der Verbindung von Arbeit und Musse aufzuzeigen. Zuletzt wird die Musse unter der Fragestellung des Herrschaftsanspruches beleuchtet.
Die Musse sei „gewissermassen gespenstisch“ und doch als konkretes Glück anzusehen. Ihren Wert entfaltet sie nicht als abstraktes Konzept, sondern als Idee und Ideal mit Erfahrungsgehalt. Musse ist dabei von Müssiggang unbedingt zu unterscheiden, auch wenn dies regelmässig zu Diskussionen führt. Sie ist als Paradox zu verstehen, da sie Ziel und Zweck aller Tätigkeit darstellt und doch wieder zu Neuem hin öffnet. Musse setzt eine Klarheit des Verstandes voraus und ist nicht als Weltflucht anzusehen, sondern als Versuch, die Welt zeitgemäss zu erfassen und zu gestalten.
Zum Punkt
„Erst in der Musse findet der Mensch zu sich und wird zum Menschen“ (S. 50), da er sich nach Aristoteles in einem kontemplativen, reflexiven Akt auf sich selbst zurückbeugt und seine eigenen Strukturen und Grundprinzipien betrachtet (S. 69). Dieses aristotelische Modell entfaltete geistesgeschichtlich eine immense Wirkung und sollte unter anderem die christliche Theologie stark prägen. Die sich daraus ergebenen Kontemplationsvorstellungen mit ihren religiösen Vollzügen, wie dem Gebet, wurden im Mönchtum praktiziert und durch eine asketische Lebensgestaltung ergänzt.
Heute fehlt der Musse dieser transzendente Ansatz weitgehend und sie wird allzu oft als kreative Komponente in der Freizeitgestaltung angesehen. Nach Platon und Aristoteles ist der Musse jedoch idealerweise eine geistige Betrachtung, eine Kontemplation oder eine Theorie innewohnend. Gerade Christen in der modernen Welt sollten sich aufgerufen fühlen, diese Wirkungsgeschichte weiterzutragen und der Musse wieder einen gültigen Platz im modernen Leben zu geben. Die konkrete Praxis kann dabei durchaus kreativ besinnlich geschehen. Hierin liegt eine lebenspraktische Chance und Aufgabe. Der Sammelband ist diesbezüglich interessant, herausfordernd und regt Experten sowie Laien zum weiteren Nachdenken an.
Claudia Mohr
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