Nach Jahrzehnten des Krieges und der Taliban-Herrschaft hat am 4. Januar 2004 die Grosse Ratsversammlung (Loja Dschirga) in Kabul eine neue Verfassung für Afghanistan beschlossen und damit erstmals den Weg zu freien Wahlen geebnet. Nach dreiwöchigen teils zähen Verhandlungen verständigten sich die 502 Delegierten in mehreren Streitpunkten auf Kompromisse. Die „Islamische Republik Afghanistan“ verfügt jetzt über eine starkes Präsidialsystem, in dem der Islam als „heilige Religion“ gilt, gleichzeitig aber Religionsfreiheit gewährleistet ist.
Bis zuletzt hatten die Delegierten darüber gestritten, ob die Sprache des Minderheitenvolks der Usbeken als dritte Amtssprache gleichberechtigt neben den bisherigen Staatssprachen Paschtu und Dari stehen soll. Der Kompromiss sieht vor, dass die Sprachen von Minderheiten in deren Hauptsiedlungsgebieten neben den beiden Amtssprachen den Status einer offiziellen Sprache erhalten. Der neuen Verfassung zufolge gelten für Männer und Frauen gleiche Rechte und Pflichten. Der Loja Dschirga ist es offensichtlich gelungen, den Anspruch eines demokratischen Rechtsstaats mit der Realität einer islamischen Stammesgesellschaft zu verbinden.
Beobachter meinen, ohne den Druck des amerikanischen Botschafters Zalmay Khalilzad, des eigentlichen „Regenten“ in Kabul, hätten sich die Delegierten an der Grossen Ratsversammlung wohl kaum einigen können. „Das ist ein grossartiger Erfolg für das afghanische Volk“ sagte der UNO-Sonderbeauftragte Lakhdar Brahimi. Auch der UNO-Beauftragte musste mit diplomatischem Geschick nachhelfen, den erbitterten Konflikt über den Stellenwert der afghanischen Landessprachen auszuräumen. Brahimi sprach von „Schürfwunden“, die in den kommenden Monaten geheilt werden müssten.
Der Vorsitzende der Loja Dschirga, der frühere afghanische Präsident Sibghatullah Mudschadeddi gab den Delegierten nach Sitzungsende noch eine Mahnung mit auf den Weg: „Lasst uns vor Gott und unserem Volk versprechen, diese Verfassung in die Wirklichkeit umzusetzen. Wenn nicht, wird uns das nicht zum Guten gereichen.“ Die Umsetzung der neuen Verfassung soll von einer neu zu bildenden parlamentarischen Kommission überwacht werden.
Nach Ansicht von Menschenrechtlern enthält die neue Verfassung Unwägbarkeiten im Blick auf die Religionsfreiheit von Minderheiten. Zwar erkläre die Verfassung das Land zu einer „Islamische Republik“ und die Anhänger anderer Glaubensrichtungen dürften ihre religiösen Praktiken „in Übereinstimmung mit den Gesetzesvorschriften“ ausüben. Der Verfassungstext sage aber nichts über eine Trennung von Religion und Staat aus und spreche unterschiedlichen Religionsgemeinschaften nicht die gleichen Rechte zu, schreibt der Evangelische Nachrichtendienst „idea“. Wörtlich heisst es in Artikel 3 der Verfassung: „Kein Gesetz kann dem Glauben und Bestimmungen der heiligen Religion des Islam entgegengesetzt sein.“ US-amerikanische Beobachter sähen die Verfassung für nicht ausreichend an, um Glaubensminderheiten zu schützen.
In Afghanistan waren die meisten Menschen froh, als mit der Zerstörung ihres islamischen Staates der Versuch der Taliban endete, eine besonders engstirnige Auslegung der religiösen Gebote mit einem System durchzusetzen, das Religion und Politik völlig verschränkte und einerseits an die strenge Kirchenzucht unter Calvins Regiment in Genf nach 1541 und andererseits in seiner Menschenverachtung im Namen der Tugend an das Terrorregime der Jakobiner im Frankreich der Französischen Revolution erinnerte.
Ob allerdings mit dem Scheitern des Taliban-Regimes und der Einführung einer neuen demokratischen Verfassung für Afghanistan das Problem „islamischer oder säkularer Staat“ aus der Welt geschaffen wurde, bleibt offen. Bereits vor der Eroberung Kabuls durch die Taliban 1996 war der Präsident ein Religionsgelehrter und hiess der Staat ganz offiziell "Islamische Republik Afghanistan". Wie alle anderen Bürgerkriegsparteien hatten auch die hinter dem damaligen Präsident Burhanuddin Rabbani stehenden Fraktionen in den Jahren zuvor für die Errichtung eines islamischen Staates gekämpft - allerdings war der Kampf weniger darum geführt worden, wie dieser Staat konkret gestaltet werden solle, als darum, wer ihn beherrscht.
Im Vielvölkerstaat Afghanistan zählen mehr als 50 Prozent der Einwohner zum Staatsvolk der Paschtunen, die das Land traditionell beherrschten. Die Tadschiken machen etwa ein Viertel aus, Usbeken und Hasara je ein Zehntel.
Von den rund 25 Millionen Einwohnern Afghanistans sind 98 Prozent Muslime (84 Sunniten; 14 Prozent Schiiten). Anhänger anderer Religionen wie Christen, Hinduisten, Sikhs und Zoroastrier bilden winzige Minderheiten.