Schweiz: Interreligiöser Rat lehnt kontroverse Minarett-Initiative ab

Bern/Schweiz | 02.09.2009 | APD | Religionsfreiheit

Der Schweizerische Rat der Religionen (SCR), der aus leitenden Persönlichkeiten der Christen, Juden und Muslime besteht, lehnt die Minarett-Initiative entschieden ab, die am 29. November zur Abstimmung gelangt. Mit seiner Stellungnahme "Für ein Zusammenleben der Religionen in Frieden und Freiheit" trat der SCR zum ersten Mal seit seiner Gründung im Jahr 2006 an die Öffentlichkeit.

In der Stellungnahme, die heute im Rahmen einer Pressekonferenz vorgestellt wurde, fordert der SCR die Religionsgemeinschaften in der Schweiz dazu auf, Vorbilder dafür zu sein, wie Menschen in ernsthafter und respektvoller Weise über Erkenntnisse und Überzeugungen streiten und ruft dazu auf, die Integration der in der Schweiz vertretenen islamischen Gemeinschaften mit konkreten Massnahmen aktiv zu fördern. Diskriminierung und Ausgrenzung seien keine Rezepte für den Erhalt des gesellschaftlichen Zusammenhalts, heisst es in dem Papier.

Das nationale Gremium aus Juden, Christen und Muslimen setze sich dafür ein, den religiösen Frieden in der Schweiz zu schützen. Die Minarett-Initiative jedoch bewirke das Gegenteil, so der Rat. Die Volksinitiative instrumentalisiere Religion für politische Zwecke und erzeuge Misstrauen in der Bevölkerung heisst es in dem Dokument.

Kulturelle Vielfalt macht Schweiz stark

Kulturelle Vielfalt sei ein Merkmal der schweizerischen Identität, sie mache die Schweiz stark. Die durch die Bundesverfassung garantierten Freiheitsrechte bildeten das Fundament für ein friedliches und respektvolles Zusammenleben der Menschen verschiedener Religionen und Kulturen in der Schweiz. Alle in diesem Land hätten das Recht, im Rahmen der öffentlichen Ordnung ihren Glauben sichtbar zu leben. Dazu gehöre auch der Bau von Gotteshäusern wie sie in der jeweiligen Religion üblich seien.

Integration aktiv fördern

Der Schweizerische Rat der Religionen setze deshalb auf verstärkte Integration statt auf Ausgrenzung. Nach jüdischem, christlichem und islamischem Verständnis sei jeder Mensch ein Geschöpf Gottes. Dies sei das gemeinsame Glaubensfundament aller Religionen. Im Respekt gegenüber den jeweiligen Überzeugungen müssten Wege gefunden werden, mit Differenzen umzugehen und in Frieden zusammenzuleben. Dafür sei auf allen Ebenen Dialog nötig.

Die Unterschriften für die Volksinitiative hätten Sorgen und Befürchtungen der Bevölkerung zum Ausdruck gebracht, die diskutiert werden müssten. Zwischen den Kirchen und Religionsgemeinschaften gebe es zudem ernst zu nehmende Unterschiede. Die Frage sei, wie mit diesen Differenzen umgegangen und die Gesellschaft gestaltet werde. Ob eine Gesellschaft die Würde ihrer Mitglieder achte, entscheide sich an ihrem Umgang mit Minderheiten.

Religionsfreiheit universales Grundrecht

Der Rat bezeichnet die Religionsfreiheit als universales Grundrecht. Im Rahmen seiner Möglichkeiten und Kontakte nehme der Schweizerische Rat der Religionen deshalb auch auf Situationen religiöser Diskriminierung in anderen Ländern Einfluss.

Nach Ansicht des SCR-Vorsitzenden, Pfarrer Thomas Wipf, könne die vom Rat sorgfältig erarbeitete Stellungnahme in der Geschichte des Dialogs zwischen Christen, Juden und Muslimen auch über die Schweiz hinaus als "Meilenstein" gesehen werden.

Das Ratsmitglied, Dr. Herbert Winter, Präsident des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes (SIG), wies auf die Religionsfreiheit als eines der wesentlichen Elemente eines demokratischen Staates hin. Allerdings sei Religionsfreiheit nicht absolut. Sie stehe dann infrage, wenn sie mit anderen Grundrechten kollidiere. Es dürfe auch nicht vergessen werden, so Winter, dass Rechte immer auch mit Pflichten einhergingen. Das Recht, das die religiöse Freiheit gewähre, fordere auch die Pflicht des gegenseitigen Respekts und der gegenseitigen Achtung, auf der Grundlage der in der Verfassung verankerten demokratischen und sozialen Grundwerte.

Religion – die Botschaft des Friedens

Der Präsident der Koordination Islamischer Organisationen Schweiz (KIOS) und SCR-Ratsmitglied, Dr. Farhad Afshar, legte seine Akzente auf die Religion als Botschaft des Friedens. "Religionen sind das universelle Vermächtnis der gesamten Menschheit, sie sind die göttliche Einladung zum Frieden in Gerechtigkeit," so Afshar. Die Religionen gehörten nicht einzelnen Ethnien, Kulturen oder Nationen und dürften deshalb nicht von der Politik instrumentalisiert werden. Deshalb würden auch die im Rat vertretenen islamischen Organisationen "jegliche Form der politischen Ideologisierung zurückweisen, die das friedliche Zusammenleben in einer Gesellschaft infrage stellen," präzisierte Farhad Afshar, der seine Äusserungen auch im Namen des zweiten islamischen SCR-Mandatsträgers, Dr. Hisham Maizar, vortrug. "Wenn Moslems heute in der Schweiz die Erfahrung machen, dass ihre Minderheitsrechte durch die jüdischen und christlichen Gemeinschaften nicht nur respektiert, sondern gemeinsam und solidarisch vertreten werden, dann haben wir sehr viel erreicht mit der Gründung und der Tätigkeit des Schweizerischen Rates der Religionen," resümierte der islamische Ratsvertreter.

Religion in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit

Bischof Dr. Kurt Koch, Präsident der Schweizer Bischofskonferenz (SBK) und SCR-Ratsmitglied, betonte in seinem Statement die Bedeutung der Religion in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit. Im durchschnittlichen Bewusstsein der heutigen Gesellschaft gelte Religion als "Privatsache". Diese Sicht hänge jedoch weitgehend damit zusammen, dass Religion und ihre Institutionalisierungen zumeist in ihrem Verhältnis zum Staat betrachtet würden. Religion müsse aber bei einer zeitgemässen Ortsbestimmung im weiteren Zusammenhang von Religion, Gesellschaft und Staat Platz finden. "Religion berührt erstens das Innerste des Menschen; sie ist persönlich, aber nicht eine private Angelegenheit," so der katholische Bischof. Für den neuzeitlichen weltanschauungsneutralen Rechtsstaat verstehe es sich zweitens von selbst, "dass die Religion keine staatliche Angelegenheit mehr sein kann". Als gesellschaftlich bedeutsame Wirklichkeit könne die Religion vom Staat zwar keine Privilegien fordern, wohl aber die Freiheit, ihre Sendung in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit wahrnehmen zu können, hielt Koch fest. Dabei verwies er auf die Religionsfreiheit "als grundlegendste Gestalt der Freiheit," und zwar nicht nur im negativen Sinn, dass kein Mensch zu einer Religion gezwungen werden darf, sondern auch und vor allem im positiven Sinn, "dass den Religionsgemeinschaften die freie Ausübung ihrer Religion und die selbstständige Gestaltung des religiösen Lebens garantiert werden".

In seinem Plädoyer für die religiöse Freiheit sagte Bischof Koch wörtlich: "Von allen Religionsgemeinschaften muss deshalb gefordert werden, dass sie die Religionsfreiheit als Basis der Menschenrechte anerkennen; und dazu gehört unabdingbar auch das Recht des einzelnen Menschen, zu einer anderen Religion ohne Schaden und ohne Bedrohung wechseln zu können".

Die Grundsätze einer neuzeitlichen Gesellschaft würden, so der SBK-Präsident, in der von der Initiative geforderten Festschreibung eines prinzipiellen Bauverbots von Minaretten in der Bundesverfassung in gravierender Weise verletzt. Eine Annahme der Initiative würde den religiösen Frieden in der Schweiz gefährden und das für eine neuzeitliche Gesellschaft konstitutive Prinzip der Religionsfreiheit infrage stellen.

Die im SCR vertretenen abrahamitischen Religionen halten in dem Dokument übereinstimmend fest: "Der Mensch ist mehr als seine Religion. Der Schweizerische Rat der Religionen möchte den Blick dafür schärfen, zwischen den religiösen Überzeugungen einerseits und dem Umgang mit Individuen andererseits zu unterscheiden. Der Anspruch auf religiöse Wahrheiten rechtfertigt nicht die unterschiedliche Behandlung von Menschen. Religion darf nicht für politische Zwecke missbraucht werden. Die Botschaften der Religionen richten sich an und niemals gegen Menschen."

Zusammensetzung, Ziel und Mandat des SCR

Der Schweizerische Rat der Religionen (SCR) setzt sich aus leitenden Persönlichkeiten der (römisch-katholischen) Schweizer Bischofskonferenz (SBK), des Rates des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes (SEK), der Christkatholischen Kirche der Schweiz, Orthodoxer Kirchen in der Schweiz, des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes und Islamischer Organisationen der Schweiz zusammen. Er engagiert sich für den Erhalt und die Förderung des religiösen Friedens und bemüht sich um Vertrauensbildung zwischen den Religionsgemeinschaften und den Dialog zu aktuellen religionspolitischen Fragestellungen.

Die Mitglieder des SCR sind von ihren Kirchen oder Religionsgemeinschaften offiziell mandatiert. Die erste offizielle Stellungnahme des SCR zur Volksinitiative "Gegen den Bau von Minaretten" wird nicht nur von allen Mandatsträgern, sondern auch von deren Kirchen und Religionsgemeinschaften getragen. Aus formalrechtlichen Gründen ist das SCR-Dokument jedoch für die in der Schweizer Bischofskonferenz (SBK) vertretenen Bistümer und die Mitgliedskirchen des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes (SEK) nicht bindend, weil beide kirchlichen "Dachorganisationen" für ihre Landeskirchen nicht beschlussfähig sind.

Schweizer Kirchen und Freikirchen halten Minarett-Initiative für untauglich

Die Liste der Kirchen, kirchlichen Verbände und Gruppierungen, die sich bereits gegen die Minarett-Initiative ausgesprochen haben, ist beachtlich. Neben den drei Landeskirchen sind dies: Der Verband evangelischer Freikirchen und Gemeinden in der Schweiz (VFG), die Schweizerische Evangelische Allianz (SEA), die Anglikanische Kirche in der Schweiz, der Bund Evangelisch-lutherischer Kirchen in der Schweiz und im Fürstentum Liechtenstein, der Bund Schweizer Baptistengemeinden, die Evangelisch-methodistische Kirche (EMK) in der Schweiz, die Freikirche der Siebenten-Tags-Adventisten, die Heilsarmee, die Orthodoxe Diözese der Schweiz des ökumenischen Patriarchats von Konstantinopel sowie die Serbisch-Orthodoxe Kirche der Schweiz.

Stellungnahme des Schweizerischen Rates der Religionen im Wortlaut:

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