„Die christliche Kirche ist eine singende Kirche“, betonte der 2. Vorsitzende des Vereins für Freikirchenforschung (VFF), Dr. Johannes Hartlapp, in seiner Einführung zur Herbsttagung des Vereins zum Thema „Liedgut und Musik in der Geschichte der Freikirchen“ in der Evangelischen Hochschule Tabor Marburg/Lahn. Ein Gottesdienst sei ohne Lieder kaum denkbar, stellte der Dekan der adventistischen Theologischen Hochschule Friedensau bei Magdeburg fest.
Günter Balders (Berlin), baptistischer Pastor und emeritierter Professor für Kirchengeschichte, kam bei seinem Rückblick zur freikirchlichen Musik zu dem Ergebnis, dass es keine Freikirche gebe, die so wie die Methodisten das internationale christliche Liedgut berücksichtigen würde. Der im Ruhestand lebende Probst Manfred Weingarten (Verden/Aller) stellte die Gesangbücher der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche (SELK) und ihrer Vorgängerkirchen dar. Friedlind Riedel (Göttingen) und Simon Runkel (Siegen/Bonn) führten in ihren Forschungsbericht zur Rolle der Musik bei den sogenannten „Geschlossenen Brüdergemeinden“ ein, zu denen in Deutschland rund 13.000 Gläubige an 213 Versammlungsorten zählten. Bei einer Podiumsdiskussion zur Arbeit der Gesangbuchausschüsse ging es unter anderen um Kriterien für Lieder, die in einem neuen Gesangbuch am Beispiel der Methodisten, Baptisten, den Freien evangelischen Gemeinden und der SELK aufgenommen würden. Bundessingwart Horst Krüger (Wuppertal) gab einen Einblick in die Geschichte und Arbeit des Christlichen Sängerbundes, der in Deutschland rund 600 Chöre mit etwa 10.000 Sängerinnen und Sängern aus verschiedenen Kirchen und Gemeinschaften umfasse.
Majorin Christine Schollmeyer (Hamburg) betonte, dass es für die Heilsarmee typisch sei, christliche Texte mit bekannten „weltlichen“ Melodien zu verbinden. So werde das Lied „Liebster Jesus, welche Freude, es zu wissen: du bist mein!“ nach der Melodie aus Beethovens „Ode an die Freude“ gesungen. Dem „Kriegslied“ der Heilsarmee, „Krieger unseres Herrn ... stürmt des Teufels Festung“, lägen die Noten eines alten englischen Trinkliedes zugrunde, obwohl die Mitglieder der Freikirche abstinent lebten und daher auf alkoholische Getränke verzichteten. Das Lied „Jesus, halt mich unterm Kreuz an dem Born des Lebens“ werde nach der volkstümlichen Weise „Sah ein Knab‘ ein Röslein steh‘n“ (Heideröslein) gesungen. Das eigene musikalische Empfinden stellten die Mitglieder der Heilsarmee dabei zurück, um Menschen durch bekannte Melodien anzusprechen, so Schollmeyer.
Über die „Aufgabe des Chores in Gemeinde und Gottesdienst“ referierte Dr. Holger Eschmann, Professor für Praktische Theologie an der Theologischen Hochschule Reutlingen der Evangelisch-methodistischen Kirche. Verschiedene Untersuchungen hätten ergeben: „Wer singt, ist glücklicher und gesünder“, denn Singen habe eine Angst lösende und Schmerz lindernde Wirkung. Zwar würden immer wieder freikirchliche Chöre wegen mangelndes Interesse oder Überalterung aufgelöst, andererseits entstünden neue Singkreise. „Das Singen im Gottesdienst ist immer noch für die Gläubigen wichtig.“ Ein Chor sei allerdings mehr als nur die Umrahmung eines Gottesdienstes. Er übe einen liturgischen Dienst aus. Er habe im Gottesdienst auch keine Auftritte, denn die Gottesdienstbesucher wären nicht in einem Konzertsaal. Das Lob Gottes solle zwar mit „möglichst schönen Tönen“ zum Ausdruck kommen, doch auch ein sogenannter „mittelmässiger“ Chor habe im Gottesdienst seine Berechtigung.
Der Liedermacher Wolfgang Tost (Chemnitz) berichtete über seine langjährige Zusammenarbeit mit dem evangelisch-lutherischen Pfarrer Dr. Theo Lehmann in der Jugend- und Gemeindeevangelisation. Ein Liedermacher komme ohne grosse Technik aus und wäre auch kostengünstiger als eine Band oder ein Chor. Tost sei schon bei der Vorbereitung einer Evangelisation dabei, um mit den Mitarbeitenden zu singen und sie auf das „Startlied“ der Evangelisation vorzubereiten. Ausserdem werde ein Liedheft erstellt. Der Evangelist und der Liedermacher würden ein Team bilden. Die Aussagen des Evangelisten und die Lieder wären aufeinander abgestimmt, sodass Tost der Lied- und Lehmann der Wortevangelist sei. Beim ersteren gehe es um eine gute Mischung von Solo- und Mitsingliedern. Dabei handele es sich um aus dem Leben gegriffene, aktuelle und eindrückliche Liedtexte, ohne fromme Schnörkel.
Der emeritierte Professor für Kirchemusik, Wolfgang Kabus (Augsburg), der bis zu seinem Ruhestand an der Theologischen Hochschule der Siebenten-Tags-Adventisten in Friedensau bei Magdeburg lehrte, befasste sich mit „Christlicher Popularmusik – Die Kirche als popkultureller Partner wider Willen“. Kabus schlussfolgerte, die Popularmusik bestätige höchst eindrucksvoll, dass es einer der grössten protestantischen Irrtümer wäre zu meinen, Religion sei nur eine Sache der bewussten Wahrnehmung. Die Popularmusik habe in der Gesellschaft eine Leitbildfunktion übernommen. Deshalb müsse die Kirche in diesem Bereich ebenfalls kompetent werden. Dennoch habe auch die tradierte Kirchenmusik ihre Berechtigung.
Zum Schluss der Herbsttagung gab Clemens Mudrich (Bautzen) einen Bericht über seine Forschungen zu den historischen, praktisch-theologischen und musikpsychologischen Aspekten heutiger Lobpreiskultur im Gottesdienst. Die in Marburg gehaltenen Referate werden im VFF-Jahrbuch dokumentiert, das 2013 erscheinen soll.