Die Situation ist fiktiv: In einer Kleinstadt kämpft eine Kirchengemeinde mit einer schrumpfenden Mitgliederzahl. Ein Sommerfest soll dem Gemeindeleben neue Impulse geben. Auch nichtkirchliche Gruppen lädt die Kirchengemeinde ein. Auf den ersten Blick ist das Fest ein voller Erfolg. Viele junge Familien erfüllen das Kirchengelände mit Leben. Doch es fällt auf, dass sich auf vielen Schildern Runen befanden. Flugblätter luden zu „Völkischen Deutschen Festen“ ein. Beim Feuer am Abend erschollen nationalistische Lieder. Später berichtet die Betreiberfamilie eines indischen Restaurants, dass man sie bedroht und sie deshalb auf ihren Stand verzichtet habe. Gegenüber der Presse relativierte der Gemeindepfarrer die Vorkommnisse und bezeichnete es als absurd, dass Neonazis am Fest beteiligt gewesen sein könnten.
Auf dieser konstruierten Geschichte baute das Planspiel auf, bei dem Teilnehmer des 34. Deutschen Evangelischen Kirchentags in Hamburg die Rollen der Beteiligten übernahmen. Sie suchten in der Funktion von Pfarrer und Gemeindekirchenrat den Dialog mit Mitgliedern ihrer Kirchengemeinde, die ebenso von Rollenspielern repräsentiert wurden. Wie hatten die Kirchenmitglieder die Vorfälle empfunden? Wie sollte die Gemeinde reagieren? An grossen Tischen diskutierten diese Fragen jeweils 20 Teilnehmer in ihren Rollen, unter ihnen auffallend viele junge Menschen. Ihre Standpunkte waren vorgegeben, ihre Argumente formulierten sie aber selbst.
„Es waren doch keine Nazis, sondern deutsche junge Menschen, die sich auf ihre Traditionen besinnen“, positionierte sich eine Gruppe der Gemeindebasis. „Runen gehören zur deutschen Geschichte dazu“, waren sie überzeugt. „Runen sind seit Karl dem Grossen untergegangen“, widersprach eine andere Fraktion der Kirchenmitglieder. Runen würden in der Neuzeit ausschliesslich von Nationalsozialisten gehuldigt, argumentierten sie. Die Teilnehmer diskutierten leidenschaftlich, mitunter hitzig.
Wie sollte man mit den Verursachern der strittigen Geschehnisse umgehen? Einige Stimmen warnten, sie unüberlegt als Neonazis zu bezeichnen, solange man ihre Motivation nicht kenne. Die Geschehnisse seien aber keine Einzelfälle, setzten andere dagegen. Denn es handele sich um eine Ereigniskette, die eindeutig eine nationalsozialistische Einstellung wiedergebe. Dürfe dies auf einem Gemeindefest hingenommen werden?
„Die Botschaft von Jesus Christus ist eine starke Botschaft. Sie kann auch Andersdenkende integrieren“, warf eine Teilnehmerin mit Blick auf Neonazis ein. Schliesslich sei auch Jesus auf Sünder zugegangen. Die Kirche dürfe Neonazis deshalb nicht ausgrenzen, sondern müsse sie von einem besseren Weg überzeugen. Man könne nicht Menschen integrieren, die ein völkisches deutsches Fest wollen, protestierte ein Beteiligter. Das sei unvereinbar mit dem christlichen Glauben, äusserte die Gruppe skeptisch.
Die Spielregeln sahen vor, dass sich der Gemeindekirchenrat aufgrund der Argumente für eine Vorgehensweise entscheiden muss. Im Spiel fiel der Beschluss einstimmig: Man werde auf die mutmasslichen Neonazis zugehen und mit ihnen das Gespräch suchen. Sie würden Andersdenkende mit der eigenen Offenheit überzeugen. Die Vorfälle sollten nicht überbetont werden, sondern jeder solle an sich selbst arbeiten. Sofort protestierte ein Rollenspieler aus der Gruppe der Kirchenmitglieder: „Das ist zu unkonkret! Was ist eure Haltung nach aussen?“
Andere Spielgruppen im Saal erarbeiteten eigene Positionen. Man werde ein „Fest der Toleranz und der Tradition“ initiieren, teilte ein Jugendlicher in der Rolle des Pfarrers mit. Eine weitere Spielgruppe entschied sich für ein resolutes Vorgehen gegen rechtsextremistische Tendenzen. Gegen die Verursacher werde man Anzeige erstatten und eine fachliche Begleitung für den Umgang mit Rechtsextremismus in Anspruch nehmen. Ausserdem wolle man das Thema im Konfirmandenunterricht behandeln und in den Schulen Aufklärungsarbeit leisten.
Welche Reaktion würden sich die Teilnehmer von ihrer eigenen, realen Gemeinde wünschen? Notwendig sei mehr Sensibilität im Umgang mit dem Thema, äusserte ein Beteiligter: „Es fängt mit dem Bagatellisieren an, dass Nazis mehr Raum gewinnen.“ Andere äusserten, dass sie für eine gelingende Diskussion sich noch mehr dem Phänomen Rechtsextremismus auseinandersetzen müssten.
Während im Saal die Teilnehmer diskutierten, warteten vor den Türen bereits hunderte Interessierte für den nächsten rund zweistündigen Durchgang. Die Spielleiter von der Berliner Initiative „planpolitik“ mussten aufgrund der grossen Nachfrage die Anzahl der Rollenspiele deutlich aufstocken. Zum Ende des Kirchentages werden voraussichtlich rund 1.400 Personen am Rollenspiel teilgenommen haben. Betrachtet man die Nachfrage als einen Indikator für die Aktualität der Fragestellung, dann dürfte der Umgang mit Rechtsextremismus ein brennendes Thema für die Kirche sein.