Mit dem Thema „Reformatorische Identität im europäischen Freikirchentum“ befasste sich die Frühjahrstagung des Vereins für Freikirchenforschung (VFF) am 12. und 13. März in der Lutherstadt Wittenberg. Die Veranstaltung fand in Kooperation mit der Evangelischen Wittenberg-Stiftung in der früheren kursächsischen Landesuniversität Leucorea statt, an der auch der Reformator Martin Luther und sein engster Vertrauter Philipp Melanchthon lehrten.
Der Vorsitzende des VFF, Dr. Christoph Raedel, ein evangelisch-methodistischer Theologe, der an der Freien Theologischen Hochschule Giessen (FTH) als Professor für Systematische Theologie lehrt, betonte in der Einführung zur Tagung, dass die Freikirchen in Deutschland sich im Namen oder im Selbstverständnis nahezu ausnahmslos als „evangelisch“ bezeichneten. Geschichtlich gesehen habe diese Identität vor allem im Gegenüber zu den Landeskirchen gestanden. Es sollte ausgedrückt werden: „Wir sind zwar keine evangelischen Landeskirchen, aber wir sind auch gut evangelisch.“ Dennoch stellten sich zum Attribut „evangelisch“ im Blick auf die Freikirchen einige Fragen: Wie verhalten sich reformatorisches Erbe und erweckliche Prägung zueinander? Wie greifen Theologie, Frömmigkeit und Kultur in der Ausbildung freikirchlicher Identität ineinander? Und welchen Beitrag können Freikirchen mit ihrem Verständnis von „evangelisch“ leisten? Mit diesen Fragen befassten sich auch die Referenten.
Den Dissentern in Grossbritannien war die Reformation nicht radikal genug
Dr. David Bebbington, ein Baptist, Professor für Geschichte an der schottischen Universität Stirling nordwestlich von Edinburgh, sprach über „Reformation und rivalisierende Identitäten im britischen Dissent“. Die Dissenter („Widersprechenden“ oder „Abweichler“) waren in Grossbritannien Protestanten, die ausserhalb der Church of England und der Church of Scotland ihre Gottesdienste feierten. Während die etablierten Kirchen vom Königshaus und vom Parlament unterstützt wurden, lehnten die Dissenter eine staatlich begünstigte Religion ab.
Im 17. Jahrhundert gab es von ihnen drei Gruppen. Die Presbyterianer lehnten eine bischöfliche Verfassung ab, hielten jedoch an einer gegenüber den örtlichen Gemeinden höhergestellte Führung durch Kirchengremien fest. Die Independents („Unabhängigen“) oder auch Kongregationalisten genannt, kämpften für die Unabhängigkeit zwischen allen örtlichen Kirchengemeinden, damit sie die Vollmacht besassen, ihre eigenen Angelegenheiten selbst regeln zu können. Die letzte dieser drei Gruppen waren die Baptisten, die in ihrer Organisationsform mit den Independents fast identisch waren, jedoch nur die Taufe von Gläubigen praktizierten. Eine vierte Gruppe, die Society of Friends („Religiöse Gesellschaft der Freunde“), existierte zwar auch ausserhalb der Church of England, wurde jedoch von den anderen drei Gruppen für gewöhnlich als häretisch verworfen. Im 18. Jahrhundert entstand innerhalb der Church of England mit dem Methodismus eine weitere Bewegung, die sich jedoch gegen Ende des Jahrhunderts grösstenteils aus der nationalen Kirche hinausbewegte.
Laut David Bebbington stand bei den Dissentern in Grossbritannien die Reformation in wechselndem Ansehen. Sie verdankten ihre Existenz zwar der Reformation, blickten jedoch nur mit grosser Reserviertheit auf sie die zurück. Die kontinentale Reformation war für die meisten von ihnen nicht radikal genug, und die englische Reformation war von Staatswegen her durchgesetzt worden. Vom 18. Jahrhundert an war es vor allem die Erweckung, die ihr Gemeinschaftsleben prägte, sodass die Reformation nur gelegentlich und in begrenzter Weise ihre Identität prägte.
Auch die Freikirchen berufen sich auf die Reformation
Rainer W. Burkart, Pastor der Mennonitengemeinde in Enkenbach östlich von Kaiserslautern, hatte das Thema „Den Weg der Versöhnung gehen. Die Überwindung früherer Konflikte in den Dokumenten der bilateralen Konsensökumene“. Er wies darauf hin, dass es durchaus Dialoge zwischen den evangelischen Kirchen und den Freikirchen, wie Baptisten, Methodisten, Mennoniten, Adventisten und Pfingstlern, gebe. Auch untereinander führten die Freikirchen bilaterale Gespräche, etwa Mennoniten und Baptisten oder Adventisten und Mennoniten.
Burkart stellte fest, dass besonders die Mennoniten auf der südlichen Halbkugel der Erde immer mehr Interesse an ihren täuferischen Wurzeln hätten, die bis in die Reformationszeit reichten. Der Pastor befasste sich in seinem Referat mit den Dialogen, welche die Mennoniten mit Vertretern reformierter und lutherischer Kirchen führten. Er erinnerte an die massenhafte Vertreibung, Verfolgung und Inhaftierung von Täufern und Täuferinnen in der Kirchengeschichte. Schätzungsweise 2.000 bis 3.000 Exekutionen von Taufgesinnten liessen sich in Europa anhand der Quellen nachweisen.
Schuldbekenntnis der evang.-ref. Landeskirche des Kantons Zürich gegenüber Täufern
Am 26. Juni 2004 verlasen Vertreter der Evangelisch-reformierten Landeskirche des Kantons Zürich anlässlich des 500. Geburtstages des Schweizer Reformators Heinrich Bullinger ein Schuldbekenntnis zum Verhältnis der reformierten Kirchen zu den Kirchen der täuferischen Tradition in einem Gottesdienst im Grossmünster in Zürich. Damit wurde ein seit den 1980er Jahren geführter Dialogprozess feierlich abgeschlossen. Interessant sei, so Burkart, dass gerade Jubiläen den Auftakt zu derartigen intensiv geführten Dialogen über die konfliktreiche Geschichte der beteiligten Kirchen bildeten.
Eine peinliche Einladung
Als 1980 die deutschen Lutheraner den 450. Jahrestag der Confessio Augustana (Augsburger Bekenntnis) feierten, seien dazu auch die Mennoniten aufgrund ihrer festen Verankerung in der Ökumene eingeladen worden. Doch die Mennoniten hätten das „Hauptbekenntnis“ der lutherischen Konfessionsfamilie nur unter Vorbehalt mitfeiern können, da in dieser Urkunde die Verwerfung der Täufer einschliesslich ihrer ewigen Verdammnis festgeschrieben sei. Burkart: „Wir hätten unsere eigene Verdammung feiern sollen.“
Aufgrund der „peinlichen“ Situation des Jubiläums von 1980 entstanden in Deutschland, aber auch in Frankreich, Dialoginitiativen, die immer weitere Kreise zogen. Während der 11. Vollversammlung des Lutherischen Weltbundes (LWB) am 22. Juli 2010 in Stuttgart baten die Lutheraner die Mennoniten um Vergebung für das den Täufern zugefügte Unrecht. Die Vertreter der Mennonitischen Weltkonferenz (MWK) nahmen die Versöhnungsbitte an. Eine internationale Studienkommission arbeite angesichts des bevorstehenden Reformationsjubiläums von 2017 weiter an der Konfliktgeschichte des 16. Jahrhunderts, um die „Heilung der Vergangenheit“ zu ermöglichen, so Burkart.
Ein Platz im Schatten
Er merkte jedoch kritisch an, dass das Täufertum trotz aller Beteuerungen des lutherisch-mennonitischen Versöhnungsprozesses auf Weltebene in den bisherigen Veröffentlichungen der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) zum Reformationsjubiläum weitgehend unberücksichtigt geblieben sei. Sofern die Täufer erwähnt würden, werde ihnen eine Sonderstellung eingeräumt, so dass sie nicht wirklich zur Reformation dazu gehörten. Sie fänden daher keinen angemessenen Platz in den Jubiläumsfeierlichkeiten. Es stelle sich deshalb laut Burkart die Frage der Deutungshoheit: Wer definiert die Begriffe Reformation und evangelisch? Für den „linken“ Flügel der Reformation, nämlich die Täufer, bleibe wohl auch zum 500. Geburtstag wieder nur ein Platz im Schatten.
Begegnung auf Augenhöhe
Dr. Heike Miller, Pastorin der ghanaischen Gemeinde der Evangelisch-methodistischen Kirche (EmK) in Frankfurt am Main, befasste sich mit der „Reformatorischen Identität in methodistischen Migrantengemeinden“. Sie geht davon aus, dass die Grundlagen der Reformation „solus Christus“ (allein Christus), „sola gratia“ (allein aus Gnade), „sola fide“ (allein aus Glauben) und „sola scriptura“ (allein die Heilige Schrift) auch heute besonders in Migrantengemeinden gelebt werden könnten. Migranten bräuchten sich daher nicht ständig für das entschuldigen, was sie aufgrund ihrer Kultur anders machten. Da sie von der Gnade lebten, könnten sie selbstbewusst Verantwortung übernehmen. Dazu gehöre auch, das Evangelium in der eigenen Sprache zu studieren und weiterzugeben. Wer nicht lesen könne, dem müsse entsprechend geholfen werden. Den Glauben gelte es nicht nur allgemeinverständlich zu verkündigen, sondern auch durch die eigene Lebensweise zu bezeugen.
Auch Migranten stünden in der Gefahr, „sich selbst zu genügen“, so Pastorin Miller. Sie müssten sich daher immer wieder die Frage stellen, ob sie eine Kirche oder lediglich einen kulturellen Club bildeten. Reformation bedeute zudem die ständige Erneuerung der Kirche. Dazu gehöre die „Begegnung auf Augenhöhe“, sowohl mit einheimischen Christen, wie auch mit Migranten aus anderen Kulturen. Es bestehe die Tendenz, dass die neu nach Deutschland gekommenen Flüchtlinge von denen, die schon länger in der Bundesrepublik leben, abgelehnt würden: „Die nehmen uns nur die Aufmerksamkeit und die Arbeitsplätze weg“, hiesse es. Auch hier sei eine Begegnung auf Augenhöhe notwendig, denn gerade christliche Migranten hätten hierzulande eine spezielle Aufgabe.
Ein erweckliches Evangelium für den europäischen Kontinent
Dr. Manfred Henke aus Gross Grönau bei Lübeck, Mitglied der Neuapostolischen Kirche, stellte seinen Forschungsbericht zu „Internationale Verbindungen in der Entstehung deutscher Freikirchen“ bezüglich der Continental Society vor. 1819 gründeten Henry Drummond und Robert Haldane in London die evangelikale „Continental Society for the Diffusion of Religious Knowlegde over the Continent of Europe“, um auf dem europäischen Festland ein „erweckliches“ Evangelium zu verkündigen. Die Gesellschaft verstand sich als „überkonfessionell“ und finanzierte in verschiedenen europäischen Ländern „Agenten“, die selbständig arbeiten konnten und lediglich tagebuchartige Arbeitsberichte nach London senden mussten. 1823 wurde der deutsche Christ Johann Gerhard Oncken nach Hamburg gesandt. Er war in Nordwestdeutschland missionarisch aktiv und knüpfte viele Kontakte. Oncken wurde 1834 Baptist und in der Folgezeit zu einem der bedeutenden Kirchengründer im Europa des 19. Jahrhunderts. Auch die 1831 in England entstandene Katholisch-apostolische Kirche konnte durch die Kontakte der „Agenten“ ebenfalls auf dem europäischen Kontinent Fuss fassen, so Henke.
Zum Abschluss der Tagung informierte Edgar Lüllau, Leverkusen, Pastor im Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden, über die „Anfänge baptistischer Mission in Kamerun: Zwischen reformatorischer Identität und kultureller Prägung“. Die in Wittenberg gehaltenen Referate werden im Jahrbuch des Vereins für Freikirchenforschung dokumentiert, der 2017 erscheinen soll. Die VFF-Herbsttagung 2016 findet am 10. und 11. September auf dem Thomashof bei Karlsruhe zum Thema „Reformatio und Restitutio? Vorstellungen von Erneuerung der Kirche in der Geschichte der Freikirchen“ statt.