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Buchrezension: «Nicht mehr schweigen»

Basel/Schweiz | 12.06.2019 | APD | Buchrezensionen

Timo Platte, Nicht mehr schweigen: Der lange Weg queerer Christinnen und Christen zu einem authentischen Leben; Berlin: Pro Business, 2018, 288 Seiten, Klappenbroschur, 29,90 Franken, ISBN 9783964090751, E-Book, 16.00 Franken, EAN 9783964098115; www.nicht-mehr-schweigen.de

«Der erste Dienst, den einer dem anderen in der Gemeinschaft schuldet, besteht darin, dass er ihn anhört. Wie die Liebe zu Gott damit beginnt, dass wir sein Wort hören, so ist es der Anfang der Liebe zum Bruder, dass wir lernen, auf ihn zu hören». Mit diesem mahnenden Wort von Dietrich Bonhoeffer beginnt ein Buch, das es möglich macht, auf 270 Seiten Mitmenschen anzuhören, die aus Angst ihre innere Not bisher verschwiegen haben. Die Publikation gibt Einblick in die Lebensrealität von 25 homosexuellen und transidenten Menschen. Das Besondere dabei ist, dass sie alle aus einem christlich-konservativen Umfeld stammen. Aus persönlichen Gründen bleiben sie anonym. Es werden ausschliesslich Vornamen oder Pseudonyme genannt. Die Organisation «Zwischenraum» (www.zwischenraum-schweiz.ch) bietet Gläubigen mit einer homosexuellen Orientierung oder transsexuellen Identität einen geschützten Ort der Begegnung. Ihm verdankt dieses Buch seine Existenz.

In kurzen Kapiteln berichten Christinnen und Christen, wie es ihnen erging, als sie in jungen Jahren realisierten, dass sie anders waren, als die Mehrheit. Sie schildern ihren jahrelangen und häufig äusserst schmerzhaften und einsamen Weg, auf dem sie sich hinsichtlich ihrer sexuellen Orientierung oder Identität innigst wünschten, anders zu sein und anders zu werden. Schliesslich jedoch mussten sie sich alle eingestehen, dass dieser Kampf aussichtslos war.

Der Herausgeber Timo Platte schreibt: «Sie haben lange ein Doppelleben geführt. Aus Angst, abgelehnt und ausgegrenzt zu werden. Nach aussen haben sie sich angepasst. Aber in ihrem Inneren tobte ein Kampf: zwischen Angst und Sehnsucht, zwischen christlicher Norm und ihren wahren Gefühlen.» Stellvertretend für viele andere offenbart er: «Jahrelang rang ich im Gebet um Hilfe und Veränderung. Doch die ständige Angst, nicht zu wissen, was passieren würde, wenn ich meinen inneren Konflikt jemandem anvertraute, und die Panik, dass mir mein Leben dann um die Ohren fliegt, hielten mich regelrecht gefangen».

Einige wurden zunächst durch christliche Seelsorge- und Therapieangebote ermutigt. Sie schöpften Hoffnung auf die ersehnte Veränderung. Die Möglichkeit, ihre geheime Not mit jemandem zu teilen, brachte eine erste Erleichterung. Doch am Ende kamen sie alle enttäuscht und seelisch noch stärker verwundet zur Erkenntnis, dass die homosexuelle Orientierung ein fester und unveränderbarer Bestandteil ihrer Identität war. Einige fühlten sich von den Therapieangeboten betrogen und inkompetent behandelt. Nach fast zwanzig Jahren Gesprächs- und Psychotherapie (!) zieht ein Autor den knappen Schluss: «Übrig bleibt der schwule Matthias. Die meisten sogenannten Ex-Gay Bewegungen haben ihre Dienste mittlerweile eingestellt».

Manche bewerten die Zeit ihres Kämpfens als vergeudete Jahre, weil sie vergeblich und krampfhaft versucht hatten, etwas zu verändern, das es aus ihrer heutigen Sicht hinzunehmen gilt. Erst, als sie sich das voll eingestehen konnten und aufhörten, ihre sexuelle Wirklichkeit zu verleugnen oder zu verdrängen, begannen die bisweilen heftigen psychischen und körperlichen Krankheitserscheinungen, die im Laufe des zermürbenden Kampfes gegen sich selbst aufgetreten waren, abzuklingen und zu heilen. Die eigene sexuelle Orientierung in ihr Selbstbild zu integrieren, erlebten alle als einen befreienden Durchbruch. Ihre Erfahrungen könnte man so zusammenfassen, dass sie Heilung und Befreiung gerade nicht in der Überwindung, sondern in der Annahme ihrer sexuellen Orientierung fanden.

Das Coming-out führte bei den meisten jedoch dazu, in einen unlösbaren Konflikt mit ihrem kirchlichen Umfeld zu geraten, das sie im Falle einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft nicht mehr länger als vollwertige Mitglieder akzeptieren konnte. Das Buch berichtet auch von der Entscheidung für ein zölibatäres Leben, doch das scheint die seltene Ausnahme zu sein. In der schmerzlichen Auseinandersetzung mit ihren Kirchen verloren einzelne ihren Glauben an einen liebenden Gott, andere verliessen ihre bisherigen Gemeinden und lebten ihren Glauben fortan privat. Einige fanden Heimat in kirchlichen Gemeinschaften, die sie in ihrem Anderssein liebevoll aufnahmen.

Wo dieses Buch über homosexuelle Beziehungen berichtet, wird deutlich, dass sie dem tiefen Verlangen nach einer dauerhaften Partnerschaft entsprangen. Am Anfang steht, offenbar genauso wie bei Heterosexuellen, die Sehnsucht nach der ganzheitlichen Zuneigung und Annahme eines anderen Menschen und nicht, wie bis heute von vielen irrtümlich angenommen, eine pervertierte Lust nach sexueller Befriedigung. Demgegenüber machen die Berichte über sogenannte «Fassadenehen», in denen Homosexuelle eine heterosexuelle Lebensbeziehung eingingen, äusserst betroffen. Sie kommen alle zum Schluss, dass sie ihre PartnerInnen und gemeinsamen Kinder im Grunde betrogen haben, weil die ganzheitliche Erfüllung ihrer Zweisamkeit für beide in dieser Konstellation gar nicht möglich war.

Zwei Autoren werfen in ihren Berichten Fragen auf, die besonders bewegen und zur Reflexion drängen: Mit wieviel Liebe und seelsorgerlichem Verständnis begegne ich homosexuellen und transidenten Menschen in meiner Gemeinde? Matthias, ein schwuler Arzt und Therapeut fragt sich: «Wie kann es uns [Christen] gelingen, Lebensumstände stehen zu lassen, die ganz offensichtlich nicht wählbar sind oder sich nicht verändern lassen?» Elena wendet sich mit selbstkritischem Blick an konservative christliche Gemeinden: «Ich wünsche mir sehr, dass die sogenannten fundamentalistischen Christen aufhören, ihre homosexuellen Glaubensgeschwister so zu behandeln, als wären sie Aussätzige. Bei Jesus gibt es keine Ausgestossenen».

Pastoren, Seelsorger und überhaupt alle Christen, die sich dem Evangelium und damit der Barmherzigkeit und der Wahrheit verpflichtet fühlen, tun gut daran die Stimmen der «Brüder» in diesem Buch aufmerksam anzuhören. Sie machen betroffen, erweitern den Horizont und richten ernsthafte Fragen an traditionelle Einschätzungen und Denkmuster. «Nicht mehr schweigen» ist ein Buch, das unter die Haut geht und zum Nachdenken und Diskutieren anregt. Es leuchtet in eine dunkle kirchliche Tabuzone hinein und wirft am Beispiel homosexueller und transidenter Christen die grundsätzliche Frage auf, wie gut die Lehre der Gemeinde zu diesem Thema im Sinn und Geist Jesu seelsorgerlich abgestützt werden kann.
Christian Alt

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