Buchrezension: „Verloren im Cyber Space – Auf dem Weg zur posthumanen Gesellschaft“, Joachim Köhler, Evangelische Verlagsanstalt, 1. Edition, (8. Dezember 2020), 368 Seiten, (13 x 21,5 cm), Gebundenes Buch 22,00 €, e-Book/Kindle 17,99 €, ISBN-13: 978-3-374-06758-9, ISBN-10: 3374067581.
Die Cyberwelt ist allgegenwärtig und bestimmt unser Leben in zunehmendem Ausmass. Ohne Netz ist der postmoderne Mensch nicht mehr handlungsfähig, weder privat noch in der Arbeitswelt. Diese Tatsache hat neben den Veränderungen von Alltagspraktiken auch philosophische Konsequenzen. Auf diese metaphysischen Folgen will der Schriftsteller, Journalist und Philosoph Joachim Köhler in seinem neusten Buch aufmerksam machen. Köhler entwirft dazu das Portrait des posthumanen Menschen, der sich in der Cyberwelt verloren hat. Dystopisch anmutend entfaltet der Autor das Bild eines neuen Menschen, dem sein Menschsein zwischen den Algorithmen abhandengekommen ist.
Himmel
Dabei wird der Lesende zunächst gedanklich ins paradiesische Kalifornien des 20. Jahrhunderts mitgenommen und steht dort zwischen blühenden Orangenbäumen. Die warme Sonne scheint ins Silicon Valley, während in Garagen junge Tüftler an ersten digitalen Ideen zur Weltverbesserung basteln. Doch Wolken ziehen auf. Kaum ist die wundersame Technik allgemein zugänglich, werden auch schon Schattenseiten im virtuellen Schlaraffenland sichtbar. Die Unübersichtlichkeit und Unendlichkeit der Chatrooms, Blogs und Clouds führt zur Verwirrung und Desinformation. Trolls, Vieren und Avatare bevölkern die digitale Welt und stellen sich dem Menschen entgegen.
Hölle
Zuletzt wird es dunkel um den Menschen. Köhler skizziert die Abgründe der Internetwelt. Das Darknet, Pornographie, Internet-Gaming und Gambling führen zur Entwirklichung und Enteignung des Menschen (S. 250). Spätestens jetzt werden die digitalen Verheissungen entlarvt, die falschen Versprechungen vom endlosen Glück blossgestellt. Der posthumane Mensch ist tatsächlich unfrei, von Maschinen kontrolliert, von Megakonzernen bevormundet und sozial verarmt. Er droht im Cyber-Sog unterzugehen und verwechselt die digitale Welt mit der realen. Die Fähigkeit zur kohärenten Selbststeuerung und Selbstkonstitution ist abhandengekommen (S. 301f). Doch „Wirklichkeit heisst Widerstand“ (S. 302), benötigt Luft zum Atmen und ist endlich.
Lebensraum
Köhler sensibilisiert für ein komplexes Thema und schlägt gleichzeitig einen Pfosten ein. Gerade dass er hintergründig mit der Dichotomie Paradies und Hölle spielt, macht das Leseerlebnis schillernd und opulent, doch manche Ausführungen geraten vor diesem Hintergrund auch sehr bedrückend. Ist der Mensch tatsächlich den Cybergiganten so hilflos ausgeliefert oder ist dies Schwarzmalerei? Köhlers Lösung: Der Mensch muss sich selbst wieder mehr bewusstwerden, muss autonom und wertebasiert denken können und reflexiv handeln. Dazu gehört, dass er fähig ist, abzuschalten - gedanklich und praktisch. Öfter mal digitales Detoxing zu betreiben, macht frei - und schlussendlich wieder menschlich.
Claudia Mohr
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