von Christian B. Schäffler, Hannover
Eine neue Kultur des Fragens
Hannover, 31.05.2005/APD Vom 25. bis 29. Mai fand in Hannover das grösste Laientreffen der Protestanten in Deutschland, der Evangelische Kirchentag, mit 105 000 Dauerteilnehmern statt. Nach Angaben der Organisatoren kamen zum fünftägigen Kirchentreffen über 1,2 Millionen Menschen. Das Durchschnittsalter der Teilnehmenden betrug 36 Jahre; davon waren 58,9 Prozent weiblich, acht Prozent römisch-katholisch. In der Innenstadt von Hannover erfolgte zum Auftakt des Kirchentags der traditionelle "Abend der Begegnung", eine Mischung aus Volksfest, Kirchenbasar (470 Stände) und Open-Air-Festival (13 Bühnen). Die Einwohner an der Leine durften sich über die rund 300 000 Besucher, darunter "viele frohe Christen", freuen, wie eine Kirchenverantwortliche feststellte.
Mit dem Veranstaltungsmotto "Wenn Dein Kind dich morgen fragt…", einem Bibelwort aus dem Alten Testament (5. Mose 6,20), machte die Kirchentagsleitung deutlich, wie wichtig es heute sei, die Wurzeln seines Glaubens zu kennen und die Gegenwart zu verstehen, um die Zukunft zu gestalten. Die Fragestellung wäre auch Ausdruck der Suche nach Wahrheit, Glauben und Toleranz. Der Kirchentag mit seinen mehr als 3 000 Veranstaltungen und über 700 ausstellenden Gruppen auf dem "Markt der Möglichkeiten" machte diese Kultur des Fragens auf vielfältige Weise erlebbar. Darüber hinaus boten die mehr als 30 Bibelarbeiten täglich rund 50 000 Zuhörern die Möglichkeit, das "Buch der Bücher" besser zu verstehen. Das erstmals während eines Kirchentages eingerichtete Kinderzentrum wurde täglich von über 15 000 Kindern mit Eltern und Grosseltern besucht. Rund 2 500 Kinder nahmen mit ihren Eltern auch an den morgendlichen Bibelbetrachtungen teil. Bei dem Kirchentreffen wurde auf vielfältige Weise deutlich, dass eine Gesellschaft ohne Kinder keine Zukunft hat und die Zukunft der christlichen Gemeinde bei den Kindern und Jugendlichen liegt.
Der Kirchentag 2005 lebte vom Dialog als einer neuen Kultur des Fragens, vom aufeinander Zugehen, einander Zuhören, Achten in Unterschiedlichkeit, Respektieren und darauf vertrauen, dass Verständigung zwischen Generationen, Nationen, Konfessionen und Religionen möglich ist. Dem erstmals 1949 durchgeführten grössten evangelischen Laientreffen der Welt gehe es nach den Organisatoren bis heute darum, Menschen zueinander zu bringen, die für das Fragen nach Gott aufgeschlossen sind und die in der Welt den Bewährungsort des christlichen Glaubens sehen.
Beim Zusammentreffen der verschiedensten Menschen aus ganz Deutschland und Gästen aus 90 Ländern aller Kontinente, kamen Vertreter aus Kirche und Staat, aus Politik und Wirtschaft, aus Gesellschaft, Kunst und Sport zu Wort. Dabei wurden neben theologischen Themen auch aktuelle Gesellschaftsprobleme von Politikern und Kirchenverantwortlichen direkt angesprochen. In einem "Generationengespräch" mahnte der 82-jährige Publizist und Theologe Jörg Zink an, sich Sorgen ums Alter zu machen: "Ich kenne viele Leute, für die das Alter ein Unglück ist, und halte es für unerlaubt, sorglos ins Alter zu gehen." Wichtig sei, so Zink, dass es auch im Alter etwas gäbe, auf das man sein Leben gründe. Viele würden jedoch aus Angst vor dem Tod zerfressen. Der deutsche Journalist Professor Robert Leicht hat in seiner Bibelarbeit vor der Vorstellung eines "Allerwelts-Gotts" gewarnt. Man dürfe vor lauter politischer und religiöser Toleranz nicht den christlichen Glauben ausblenden und zu einem "Multi-Kulti-Gott" werden lassen. Die Christen müssten von jenem Gott erzählen, der "ultimativ und konkret, befreiend und erlösend an uns handelt", so Leicht.
Zu scharfer Kritik von Kirche und Politik an den Auswüchsen des Kapitalismus kam es in Bibelarbeiten und Predigten. Heiner Geissler (CDU) sprach sich gegen das kurzfristige Gewinnstreben von Managern und Investoren aus. Wenn etwa der Börsenkurs eines Unternehmens umso stärker steige, je mehr Mitarbeiter entlassen würden, so sei das "zutiefst unsittlich". Bereits in der Eröffnungspredigt zum Kirchentag forderte Bischöfin Margot Kässmann die Unternehmer auf, ihre soziale Verantwortung wahrzunehmen und nicht nur nach Gewinn zu streben. Mahnend fügte sie im Blick auf das Kirchentagsmotto hinzu: "Wer nur Mobilität und Geld als Wert kennt, wem Egomanie und der DAX (Deutsche Aktien-Index) zum Götzen werden, in dessen Welt haben Kinder wahrhaftig keinen Platz". Auch Bundestagspräsident Wolfgang Thierse geisselte in einer Predigt die "marktschreierische Oberfläche" der Gesellschaft. Bundespräsident Horst Köhler machte Mut zum Aufbruch und bekannte öffentlich seinen evangelischen Glauben: "Gerade in schwierigen Situationen spüre ich, dass man etwas braucht, das nicht von dieser Erde ist und uns Hoffnung und Zuversicht spendet". Der Glaube an Gott vermittle ihm einen festen Bezug, die Chance, einen Ankerpunkt zu finden, "der nicht den Relativierungen dieser Welt unterliegt".
Auf dem diesjährigen Kirchentag habe sich, so die Veranstalter, gezeigt, dass Christinnen und Christen ein nahezu unerschöpfliches Potential an Kreativität für die Kirchen und die Gesellschaft böten. Von diesem Treffen würden deshalb viele Impulse in die Gemeinden gehen. Die zahlreichen Diskussionen und Erfahrungen in Hannover hätten deutlich gemacht, dass das religiöse und spirituelle Bewusstsein der Gesellschaft den Prozess der Gestaltung der Weltgesellschaft mitbestimme. Der Kirchentag sei keine Bühne für billige politische und religiöse Parolen, sondern ein riesiges Forum für das Gespräch miteinander. Die Frage nach Gott und die Vergewisserung im eigenen Glauben hätten die Säle und Hallen oft über ihre Kapazitätsgrenze gefüllt.
Während des Kirchentages sei deutlich geworden, so die hannoversche Landesbischöfin Margot Kässmann in ihrem Abschiedsgruss, dass "der christliche Glaube Orientierung" gebe. Die Protestanten seien eine Glaubensgemeinschaft, die nicht auf Beliebigkeit gründe, sondern auf biblischen Grundüberzeugungen. Das Selbstbewusstsein und der Glaube der evangelischen Christen in Deutschland seien durch das Treffen in Hannover gestärkt worden.