Er ist weder Diva noch Pultstar, vielmehr ein Diener der Musik. Jede Art von Glamour ist Herbert Blomstedt, dem 77 Jahre alten Chef des Leipziger Gewandhausorchesters, fremd. Der musikalische Nachfahre von Felix Mendelssohn Bartholdy, Arthur Nikisch und Wilhelm Furtwängler an der Spitze des grössten Berufsorchesters der Welt ist eine weltweit geschätzte Grösse im Musikgeschäft. Wenn er im Juli nach siebenjähriger Amtszeit an der Spitze des ältesten bürgerlichen Orchesters Deutschlands verabschiedet wird, hat er exakt 486 Konzerte mit 243 Werken von 69 Komponisten dirigiert. Mit ihm verschwindet auch ein Stück des Kapellmeisterstils früherer Zeiten von den Bühnen der Welt, doch es soll ein Abschied auf Raten werden. Solange ihn das Publikum liebt und Gott ihm Kraft schenkt, will er den Taktstock schwingen, sagt der streng gläubige Christ.
Der Amerikaner schwedischer Herkunft, dessen vier Töchter in Skandinavien leben, hatte eigentlich Geiger werden wollen. "Doch ich hatte Angst, dem Publikum den ganzen Abend lang ins Gesicht schauen zu müssen. Als Dirigent hat man es da einfacher: Man kann den Gästen den Rücken zeigen", sagt Blomstedt. Es ist weniger Koketterie um seine Person, als vielmehr Ausdruck gelebter Bescheidenheit. "Es gibt andere, die sich gerne zur Schau stellen. Ich gehöre nicht dazu." Während Leonard Bernstein und Herbert Karajan nahezu jeder halbwegs Kunstinteressierte auf der Strasse erkannte, bleibt Herbert Blomstedt meist unerkannt. Die meisten kennen ihn nur vom Rücken der CD-Alben.
Doch fern der Personality-Begierden gibt es viel zu berichten über den Mann, der es geschafft hat, innerhalb von sieben Jahren den Klang eines 185 Mitglieder zählenden Ensembles zu entschlacken und Skeptiker zu Fans machten. Vom dunklen und, wie manche Kritiker bemerkten, teilweise angestaubten Spiel, hin zu einem weichen, nuancierten Zusammenspiel zwischen Holz und Blech. Die anfängliche Angst vieler Konzertgänger, Blomstedt fehle im achten Lebensjahrzehnt die nötige Kraft und der künstlerische Mut für das 21. Jahrhundert, erwies sich bereits nach der ersten Spielzeit mit sieben Leipziger Erstaufführungen als unbegründet. Der 1999 gestorbene Lord Yehudi Menuhin befand beim Antrittskonzert des 18. Gewandhauskapellmeisters: "Mir scheint, Herbert Blomstedt ist jetzt genau dort, wo er hingehört.""Das ich in Sachsen gelandet bin, ist Zufall oder eher Fügung", sagt der so Gelobte. Erstmals war er nach dem misslungenen Prager Frühling von 1968 nach Dresden gekommen, wo er zwischen 1975 und 1985 sich als Chefdirigent der Dresdner Staatskapelle einen Namen machte. "Es war Liebe auf den ersten Blick." Fasziniert zeigte er sich von dem typisch deutschen Klang, den er lautmalerisch als "recht breit, dunkel, weich und sehr ausdrucksvoll" schilderte. Die hohe Ausdruckskraft erlaube eine besondere Musizierhaltung fern von Kompromissen, die das tiefe Eindringen in ein Werk erlaube und billige Effekthascherei verurteile.
Nach Stationen beim San Francisco Symphony Orchestra (1985-1995), dem NDR-Symphonie-Orchester (1995-1996) sowie Intermezzi als Gastdirigent namhafter Ensembles kam erneut der Ruf aus Sachsen, dieses Mal vom Leipziger Gewandhaus, nachdem sein Vorgänger Kurt Masur seinen Vertrag anderthalb Jahre früher als vorgesehen aufgelöst hatte.
Die Stimmung zwischen den Stadtvätern und Masur, der während der friedlichen Revolution das Haus am Augustusplatz öffnete, unfreiwillig Politik schrieb und kurzzeitig für das Amt des Bundespräsidenten gehandelt wurde, war Mitte der 1990er Jahre auf dem Tiefpunkt angekommen. Auch zwischen Orchestermitgliedern und dem Dirigenten herrschte eine von Moll-Akkorden dominierte Disharmonie. Der "einhellige Wunschkandidat", so der damalige Orchestervorstand Hartmut Brauer über Blomstedt, sollte für Kontinuität der künstlerischen Arbeit sorgen und die Zukunft des Orchesters in dem von Stellenstreichungen und Einsparungen bedrohtem Kunstsektor sichern. Bis heute stieg unter der Ägide von "H"», wie er hausintern gerne liebevoll genannt wird, die Zahl der Abonnenten um 36,8 Prozent auf 12 200 - so viel wie nie zuvor in der Geschichte.
Doch das Leben von Herbert Blomstedt besteht nicht aus nüchternen Bilanzen, was bereits beim Blick auf seinen Schreibtisch deutlich wird. Wo sich bei Masur Briefe, Bilanzen, Bewerbungen stapelten, liegen bei Blomstedt wenige Partituren akkurat nebeneinander. "Das ist wie ein Puzzle mit immer neuen Herausforderungen und Ansprüchen. Mit wachsendem Alter bekommt man einen neuen Blick auf die Noten", sagt Blomstedt. Selbst auf Flugreisen, wenn andere gemütlich in die Kissen sinken, greift Blomstedt zu seiner Aktentasche, zückt Partituren und Bleistift und notiert flüchtige Eindrücke am Rand. "Ich habe auch schon viele Druckfehler gefunden." Sein Tag beginnt in der Regel um fünf Uhr morgens mit drei Stunden Partituren-Studium, erst dann belohnt er sich mit dem Frühstück.
Disziplin für die gemeinsame Sache und Hochachtung vor dem musikalischen Erbe verlangt er auch von seinen Musikern, ob sie vor Kindern und Jugendlichen aus Leipzig spielen oder der ausverkauften New Yorker Carnegie Hall oder der Suntory-Hall in Tokio. "Musik, die ich mache, ist eine ernste Sache und hat nichts mit Ohrenkitzelei oder der heute weit verbreiteten Verbrauchsmusik zu tun", sagt Blomstedt. «Ob der Funke zwischen Dirigent, Orchester und Publikum überspringt, ist eine Sache von Leben und Tod.» Die Striche, Punkte und Figuren zwischen den fünf Notenzeilen sind für Blomstedt «seelische Nahrung, ohne die ich sterben würde.»
"Dirigieren ist für ihn das Lebenselixier, das ihn jung und fit hält", sagt der Münchner Künstleragent Lothar Schacke. Und wer den uneitlen, hoch gewachsenen Exilschweden nach einer Aufführung mit Lobeshymnen überschüttet, sollte immer auch eine Begründung für die warmen Worte in petto haben, weiss Schacke aus Erfahrung.
Grosse Kraft für Konzertreisen rund um die Welt spendet dem Sohn eines Siebenten-Tags-Adventisten und -Predigers der Glaube. "Ein bisschen von Gott wirkt in jedem von uns. Wenn ich auf der Strasse einem Bettler begegne, begegne ich einem Teil von Gott." Musik sei für ihn das Medium, um Menschen so nahe zu kommen wie nirgends sonst. Selbst in Japan besuchte Blomstedt auf der jüngsten Tournee Samstagvormittag den Gottesdienst, da er auf Grund seines Glaubens am Sabbat erst nach Sonnenuntergang arbeitet.
Bei den durch ihn moderierten Konzerten und Einführungen in die Werke seiner Lieblingskomponisten Anton Bruckner und der Skandinavier Carl Nielsen und Jean Sibelius lauschen selbst Kinder und Jugendliche gespannt den Ausführungen Blomstedts. Aber auch Führungskräfte aus Wirtschaft und Politik kann der Maestro begeistern. Im Juli studiert er mit Managern deutscher Top-Etagen Bruckner und Schubert ein, bevor er Mitte des Monats gemeinsam mit ihnen eine Woche nach Venezuela fliegt. Er gibt tagsüber Meisterkurse für den musikalischen Nachwuchs des Landes, die Manager meistern Meetings. Und abends treffen sich alle auf der Bühne zum Konzertieren nach dem Motto Notenpult statt Notebook.
Was Blomstedt am Spiel mit den Laienmusikern reizt, ist die Begeisterung für ein gemeinsames Ziel. Aus dem heterogenen Organismus wird durch die Führung eines Menschen eine Gemeinschaft, fern akademischer Grade und Einkommen. Im sechsten Jahr von "The Management Symphony" ist Blomstedt überzeugt, dass unter deutschen Wirtschaftpatriarchen hochkarätige Musiker sind. Das Gerangel um die erste Geige, die Sitzordnung unter den Tutti-Celli und -Bratschen läuft meist harmonisch, schliesslich arbeiten alle an einem Produkt. «Wenn beim Musizieren ein paar Sechzehntel ausfallen, kann das Ganze ins Wackeln geraten. Aber wenn die Räder musikalisch ineinander greifen, schafft das eine Glückseligkeit wie selten im Leben», sagt Blomstedt.
In Leipzigs musikalischen Musentempeln läuft derweil die Vorbereitung für den Aufbruch in eine neue Ära mit Riccardo Chailly an der Spitze, der nicht nur das Amt des Gewandhauskapellmeisters, sondern auch das des Generalmusikdirektors der Oper Leipzig bekleiden wird. Mit italienischem Temperament, holländischer Liberalität - Chailly leitete seit 1988 das Royal Concertgebouw Orchestra in Amsterdam - und deutscher Akkuratesse will er das Programm weiter verjüngen. "Ich erbe von Maestro Blomstedt ein Orchester in Top-Form. Damit möchte ich auch die Jugend begeistern", sagt Chailly.
Blomstedt hat in seiner Leipziger Zeit den Boden für einen Weltstar wie Chailly bereitet. Dies geben mittlerweile selbst jene Kritiker zu, die Blomstedt anfangs museale Konservierung des Repertoires vorgeworfen hatten. Mit "Abenteurer-Ecken" im Spielplan und Entdecker-Konzerten will Chailly beweisen, dass ein Abend mit Tschaikowski oder zeitgenössischen Komponisten mindestens so spannend ist wie die Lektüre von Harry Potter oder der jüngste Film von "Star Wars". Er knüpft dort an, wo Blomstedt aufgehört hat, ohne dabei Traditionen über Bord zu werfen. Die zu Silvester aufgeführte 9. Symphonie von Ludwig van Beethoven soll auch dieses Jahr vor ausverkauftem Haus erklingen - so wie schon seit sechs Jahrzehnten.
© The Associated Press (AP)
Der Artikel erschien zuerst am 21. Juni 2005 in der Mitteldeutschen Zeitung (MZ) in Halle/Saale (Deutschland)