Als die Europäische Union im Oktober 2005 Beitrittsgespräche mit der Türkei aufnahm, erklärte sie die Religionsfreiheit zu einem "wesentlichen Verhandlungspunkt". Ein Jahr später sieht man in Brüssel wenig Grund zur Zufriedenheit. Die Situation nicht-muslimischer Minderheiten habe sich nicht verbessert, heisst es im 75-seitigen Fortschrittsbericht, den EU-Erweiterungskommissar Olli Rehn Anfang November vorgelegt hat.
"Wir leben in einem rechtlichen Vakuum", bekräftigt Holger Nollmann, evangelischer Pfarrer in Istanbul. Nicht-muslimische Glaubensgemeinschaften in der Türkei haben nach wie vor keine eigene Rechtspersönlichkeit. Das führt Nollmann zufolge zu den verschiedensten Problemen: So können sie offiziell keine Grundstücke erwerben und keine Häuser bauen. Auch die Ausbildung von Geistlichen unterliegt strengen Beschränkungen.
Prominentestes Beispiel ist die griechisch-orthodoxe Theologische Hochschule auf der Insel Chalki bei Istanbul, die 1971 von den türkischen Behörden geschlossen wurde. Das türkische Präsidium für religiöse Angelegenheiten (Dyianet) verteidigt die Schliessung bis heute mit dem Argument: "Wenn die orthodoxe Priesterschule Chalki als eigenständige Hochschule wieder eröffnet wird, dann würden sich hier sofort vierzig islamische Hochschulen unterschiedlicher Bewegungen gründen", so Ali Dere vom Dyianet.
Seit vielen Jahren bemüht sich der Ökumenische Patriarch von Konstantinopel, Bartholomaios I., vergeblich um die Wiedereröffnung. Seine Schreiben wurden von Ankara nie beantwortet. Das Patriarchat sorgt sich daher sehr, dass ohne Priesternachwuchs der orthodoxe Glaube in der Türkei ausstirbt. Der Dialog mit den Orthodoxen ist ein Schwerpunkt der Reise von Papst Benedikt XVI. vom 28. November bis 1. Dezember in die Türkei.
"Auch für die römisch-katholische Kirche ist die derzeitige Situation äusserst schwierig", so der Präsident der Türkischen Bischofskonferenz und Apostolischer Vikar von Istanbul, Bischof Louis Pelâtre. "De facto sind wir anerkannt, aber de jure gibt es uns nicht", so bringt Pelâtre den Status der drei katholischen Bischöfe des lateinischen Ritus in der Türkei auf den Punkt. Der Bischof betont aber gleichzeitig, dass es falsch sei, von einer "verfolgten Kirche" zu sprechen. Die römisch-katholische Kirche in der Türkei sei "mit Hindernissen konfrontiert, werde aber nicht verfolgt". Die offiziellen Stellen müssen jedoch immer wieder daran erinnert werden, dass Religionsfreiheit mehr bedeute als blosse Kultfreiheit.
Die Kontroll-Massnahmen der türkischen Behörden sind nicht primär gegen Minderheiten gerichtet, sondern dienen der Eindämmung des fundamentalistischen Islam. Auch muslimische Hochschulen wurden in den 1970er Jahren konfisziert und verstaatlicht. Als Vertreter einer Volksreligion geniessen muslimische Geistliche in dem Land dennoch eine wesentlich stärkere Stellung. In der Türkei ist islamischer Religionsunterricht für Schüler der Grund- und Mittelstufe Pflichtfach.
Ernste Probleme hat auch die Religionsgemeinschaft der Aleviten, wie die EU-Kommission in ihrem Bericht betont. Diese stellt mit 20 bis 25 Millionen Anhängern etwa ein Viertel der türkischen Bevölkerung und ist damit die zweitgrösste Glaubensgemeinschaft des Landes. Ihre Gotteshäuser, die so genannten "Cem"-Häuser in denen Männer und Frauen gemeinsam beten, sind nicht als Gebetsstätten anerkannt und erhalten keine Unterstützung vom Staat. Die Aleviten haben auch keine eigene Vertretung innerhalb der Religionsbehörde Dyianet, die einen türkischen Einheitsislam fördert.
Immerhin könnten die Angehörigen der verschiedenen Glaubensrichtungen relativ ungestört Gottesdienste abhalten, urteilt die EU-Kommission. Sie verweist ausserdem darauf, dass die Regierung einen Entwurf für ein neues Stiftungsgesetz vorgelegt hat, das die Rechte der religiösen Minderheiten stärken soll. Welche Auswirkungen das Gesetz haben wird, lasse sich allerdings erst nach seiner Verabschiedung beurteilen, so die Kommission. Noch sind die Ausführungsbestimmungen dieses neuen Gesetzes nicht bekannt.
Die christlichen Minderheitskirchen wollen den Reformprozess im Lande für ihre Anliegen nutzen und unterstützen deswegen einen EU-Beitritt der Türkei: "Wir lieben unser Land und wollen, dass es ein europäisches Land wird", so Bartholomaios I.
Auf die Frage, ob der türkische Beitrittsprozess zur EU in den Beziehungen zwischen Kirche und Staat Klarheit bringen wird, meint der römisch-katholische Bischof Pelâtre mit einem Schulterzucken: "Sie wissen alles in Brüssel. Sie haben dicke Dossiers über all diese Fragen."
Die Türkei ist gemäss der Verfassung ein "laizistischer Rechtsstaat", in dem "religiöse Gefühle... auf keine Weise mit den Angelegenheiten der Politik und des Staates vermischt werden". Ausserdem verpflichtet die Verfassung, "die Freiheit des Gewissens, der religiösen Anschauung und Überzeugung" zu wahren. Da aber auch die Einheit des Landes ein hoher Wert ist, wurde der staatlich geförderte Islam sunnitischer Prägung fast eine Staatsreligion. Nach türkischen Angaben sind mehr als 99 Prozent der über 70 Millionen Bewohner Muslime.