Die Kirchen in Europa sollten sich auf ihren Kernauftrag besinnen, den Menschen die Botschaft des Evangeliums zu bringen. Das forderte der rumänisch-orthodoxe Theologe Prof. Viorel Ionita (Genf) bei einer ökumenischen Fachtagung in Wien zum Stellenwert der Christen in der öffentlichen Diskussion. Durch die Wahrnehmung des biblischen Auftrags könnten die Kirchen den Menschen von heute nahe kommen, betonte Ionita. Der Theologe erwartet sich besonders von der bevorstehenden Dritten Europäischen Ökumenischen Versammlung (EÖV3) in Sibiu (Rumänien) entscheidende Impulse für die Erneuerung und die Einheit der Kirchen in Europa.
Auch der evangelische Oberkirchenrat Raoul Kneucker hat hohe Erwartungen von dieser ökumenischen Versammlung in Sibiu. Dabei gelte es, die Möglichkeiten zu gemeinsamem Vorgehen tiefer auszuloten. Kneucker wörtlich: "Nur in einer gemeinsamen Aktion können die Kirchen beweisen, dass sie die Grundrechte und die Toleranz nicht nur predigen, sondern auch auf sich selbst anwenden".
Der evangelisch-lutherische Bischof und derzeitiger Vorsitzender des Ökumenischen Rates der Kirchen in Österreich (ÖRKÖ), Herwig Sturm, warnte allerdings vor all zu grossen Erwartungen von der EÖV3, obwohl er überzeugt sei, dass von Sibiu ein positiver Effekt ausgehen werde.
Der römisch-katholische Pastoraltheologe Christian Friesl betonte, dass sich die Kirchen in den individualisierten Gesellschaften Europas vor allem als Stifterinnen von Gemeinschaft bewähren. Bei der Weitergabe des Glaubens dagegen stünden sie vielfach im "passiven Abseits". Friesl attestierte den Kirchen eine weitgehende Passivität und Wirkungslosigkeit im politischen Bereich. Gefragt sei eine dialogisch ausgerichtete Theologie, die "auf der Höhe der Zeit" ist und zugleich gesellschaftlichen Trends widersteht, durch die die Menschenwürde bedroht ist. Das Christentum solle sich zwischen der marktorientierten Wirtschaft und der Idee der Gerechtigkeit als "Katalysator" und "Lobbyist" einbringen, so der Pastoraltheologe.
Der Leiter des Brüsseler Büros des Österreichischen Rundfunks (ORF), Roland Adrowitzer, begründete mit nackten Zahlen, warum die Christen in Europa eigentlich eine mitbestimmende Grösse sein müssten: Mindestens zwei Drittel der 450 Millionen EU-Bürger bekennen sich zu den christlichen Kirchen, immerhin 15 Prozent in der EU seien als "aktive Christen" einzustufen. Dennoch stehen laut Adrowitzer die Christen in Europa im Abseits, weil es ihnen nicht gelinge, sich entsprechend bemerkbar zu machen: "Die Christen melden sich zu wenig", zitierte Adrowitzer den verstorbenen Wiener Kardinal Franz König.
Ein weiteres Manko sieht der ORF-Journalist darin, dass viele Kirchgänger sozialem Engagement skeptisch gegenüber stünden. Dabei wäre gerade das die Aufgabe der Kirche, betonte Adrowitzer: Denn ohne soziale Dimension könne man das "europäische Projekt endgültig vergessen". Kampf gegen die Armut und für die Nachhaltigkeit wären laut dem Leiter des Brüsseler ORF-Büros zwei zentrale Themen für die Christen. "Die Kirchen sind mit ihren sozialen Programmen oft die letzte Zuflucht derer, die durch unser oft so gelobtes Sicherungsnetz fallen", sagte Adrowitzer. Dies gelte es in politische Mitgestaltung zu übersetzen, die Kirchen dürften sich nicht an den Rand drängen lassen.