„Wie stellen sich Christen die Zukunft vor?“ Darum ging es während der Jahrestagung des Vereins für Freikirchenforschung (VFF) vom 27. und 28. April auf dem Campus der Theologischen Hochschule der Freikirche der Siebenten-Tags-Adventisten in Friedensau bei Magdeburg.
Angesichts der vielen Krisen in der Welt machten sich viele Menschen Gedanken über die Zukunft. Die Frage, ob unsere Welt noch eine Zukunft hat, gewinne auch in der Theologie zunehmend an Bedeutung, sagte der 1. Vorsitzende des VFF, Dr. Andreas Liese, Lehrbeauftragter für Neuere Kirchengeschichte und Freikirchentum an der Theologischen Hochschule des Bundes Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden in Elstal bei Berlin, zur Einführung in die Tagung.
Zukunftsentwürfe christlicher Theologie
Da auch Christen nicht in der Ungewissheit über die Zukunft leben wollen, machten sie sich darüber ebenfalls Gedanken und entwickelten aufgrund biblischer Aussagen zahlreiche neuzeitliche theologische Zukunftsentwürfe. Etliche davon stellte der Professor für Systematische Theologie an der Theologischen Hochschule Friedensau, Rolf J. Pöhler, vor. Viele biblische Aussagen, welche die Zukunft betreffen, wurden in Bildern vermittelt, die zur Vieldeutigkeit neigten. So behauptete beispielsweise der Reformator Martin Luther (1483–1546), dass der Papst der in der Bibel prophezeite endzeitliche „Antichrist“ sei. Dem widersprach der spanische Jesuit Francisco de Ribera 1591. Er behauptete, das letzte Buch der Bibel, die Offenbarung des Johannes, behandle erst die letzten dreieinhalb Jahre vor der Wiederkunft Jesu. Deshalb könne der Papst nicht der „Antichrist“ sein. Diese „endgeschichtliche“ Auslegung fand in verschiedenen Abwandlungen später auch in pietistischen Kreisen (eine evangelische Erneuerungsbewegung) Eingang. Der spanische Jesuit in Antwerpen, Ludwig von Alcasar (gest. 1613), vertrat dagegen die „zeitgeschichtliche“ Auslegung des Johannesoffenbarung. Sie besagt, dass sich Johannes nur mit dem römischen Kaisertum befasst habe, das durch die Wiederkunft Christi untergehen würde. Somit könne das Papsttum auch hier nicht der „Antichrist“ sein. Die im 19. Jahrhundert aufkommenden Adventisten hielten dagegen an der in Nordamerika geläufigen welt- und kirchengeschichtlichen Auslegung der Offenbarung fest, die bereits auf Viktorin von Pettau (gest. 303) zurückgeht.
In dem Bibelbuch Offenbarung, Kapitel 20, gibt es nur sechs Verse, die sich mit den eintausend Jahren in der Endzeit (Millenium) befassen. Aber auch hier seien Christen verschiedener Meinung, so Pöhler. Kommt Jesus vor den eintausend Jahren wieder (Prämillennarismus) oder erst nach einem tausendjährigen Friedensreich auf Erden (Postmillennarismus)? Auch der Dispensationalismus, der sich mit der Endzeit auseinandersetzt, sei in der Christenheit umstritten. Bei dieser Lehre spiele Israel als Gottesvolk am Weltende eine besondere Rolle.
Jesu Wiederkunft als neutestamentliche Hoffnung
Das zweite Referat befasste sich mit der Parusie (Wiederkunft) Jesu. Dr. Gert Steyn, Professor für Neues Testament und Theologie an der Theologischen Hochschule Ewersbach des Bundes Freier evangelischer Gemeinden, betrachtete die Parusie Jesu von einer anderen Perspektive. Es ging ihm um die Fragen: Welcher mögliche Ablauf im Zusammenhang mit der Wiederkunft Jesu ergeben sich aus den Evangelien? Wo liegen die jeweils unterschiedlichen Aspekte und wer waren die Empfänger, für die all das geschrieben wurde? Was lässt sich aus den Briefen des Apostel Paulus, aber auch in anderen neutestamentlichen Briefen dazu erkennen? Welche Veränderungen der Parusieerwartungen und -verzögerungen lassen sich bereits bei den frühen Christen nachweisen?
Ein kirchengeschichtlicher Überblick
Bei dem nächsten Referat von Dr. Thomas Hahn-Bruckart, Professor für Kirchengeschichte an der Universität Rostock, ging es um Endzeitkonzepte von der Zeit der Reformation bis zur Erweckungsbewegung des 19. Jahrhunderts. Es sei schon erstaunlich, wie sehr gerade die Reformation zu veränderten theologischen Zukunftskonzeptionen beigetragen habe, sowohl bei den Reformatoren als auch bei ihren theologischen Gegnern. Martin Luther, der von sich selbst sagte, dass er als junger Mönch vor dem Jüngsten Tag furchtbare Angst hatte, konnte am Ende seines Lebens beten: „Komm, lieber Jüngster Tag!“ Nach der Ära des Lordprotektors Oliver Cromwell in England, aber vor allem seit dem 18. Jahrhundert seien eine Vielzahl von Konzepten entstanden, die gerade nach den napoleonischen Kriegen in Europa und der Amerikanischen Revolution zu einer ganz massiven Neubelebung eschatologischer Vorstellungen geführt habe. Beeindruckend sei die Vielfalt der unterschiedlichen Ansätze.
Endzeitvorstellung Dispensationalismus
Der Historiker Professor Crawford Gribben von der Queen’s University in Belfast/Nordirland war per Zoom mit seinem Vortrag „Entstehung des Dispensationalismus in Irland und Grossbritannien“ zugeschaltet. Dabei ging es um John Nelson Darby (1800–1882), eine führende Persönlichkeit der Brüdergemeinden. Sein Name sei benutzt worden, um ähnliche, angrenzende, aber eigene Ideen zu verbreiten, sodass sich ein ganzer Zweig der Erweckungsbewegung auf ihn berief. Doch werde Darby fälschlicher Weise als „Vater des Dispensationalismus“ bezeichnet, obwohl er entscheidende Merkmale auf denen der Dispensationalismus beruht, ausdrücklich ablehnte.
Ebenfalls zugeschaltet war aus den USA Daniel G. Hummel, Historiker und Direktor des Lumen Center in Madison, Wisconsin. Er sprach über das Thema „Wie Endzeitvorstellungen die heutige Politik und Kultur Amerikas prägen“. Hummel erläuterte zunächst um was es beim Dispensationalismus in den USA gehe. Es handle sich um eine eigene ethnische und nationale Zukunft für das jüdische Volk und den Staat Israel. Dabei drehe sich das eschatologische Szenario in erheblichem Masse um die Entrückung der gläubigen Christen von der Erde. Dieses Szenario werde von deren Vertretern sehr drastisch beschrieben. Plötzlich seien Millionen von gläubigen Christen verschwunden und von Gott in den Himmel genommen. Flugzeuge stürzen ab, weil die Piloten „entrückt“ wurden, Fahrzeuge stossen führerlos zusammen, Fussballspiele müssen abgebrochen werden, da bestimmte Spieler nicht mehr auf dem Feld sind und auch Zuschauer „entrückt“ wurden, selbst die Babys auf den Neugeborenen Stationen der Krankenhäuser sind plötzlich verschwunden.
Nach der Entrückung setze Gott die Erlösungsgeschichte durch das nationale Volk Israel mit dem dazugehörigen Heiligen Land im Nahen Osten fort. Aufgrund des Wortes Gottes an Abraham in Genesis 12,3: „Ich will die segnen, die dich segnen“, gebe es die Vorstellung, dass Gott die amerikanischen Christen oder sogar die Vereinigten Staaten als Nation segnen werde, wenn sie den modernen Staat Israel „segnen“. Da Gott selbst sich um sein Bundesvolk Israel kümmere, sei die Bekehrung von Juden zum Christentum nicht nötig. Stattdessen sollten sich evangelikale Laien in der Politik engagieren. Denn der „säkulare Humanismus“ in den USA sei gottfeindlich und versuche die christlichen Werte in allen elitären Institutionen zu untergraben. Deshalb sei eine christliche Gegenoffensive zu so unterschiedlichen Themen wie öffentliches Bildungswesen, Abtreibung, Medienbeeinflussung und Aussenpolitik dringend erforderlich. Gott werde sein Gericht über ein säkularisiertes Amerika verhängen, wenn es sich nicht Gott zuwendet, am sichtbarsten durch die Unterstützung Israels.
Es folgten vier Kurzreferate zum Dispensationalismus und seine Erscheinungsformen. Pastor Sven Brenner, Geschäftsführer des VFF, beleuchtete die Vielzahl dispensionalistischer Stimmen innerhalb der Pfingstbewegung.
Die Journalistin Ulrike Heitmüller sprach über ihren Grossvater Friedrich Heitmüller (1888-1965). Er war als Pastor im Bund Freier evangelischer Gemeinden in Deutschland eine charismatische Persönlichkeit, die begeistern und mitreissen konnte und dabei auch immer den Zeitgeist vermittelt habe. Seine Evangelisationen hätten wesentlich zum Erstarken des Dispensationalismus beigetragen.
Wie intensiv verschiedene theologische Strömungen im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert sich miteinander verwoben und dabei Erfolg hatten, machte der Beitrag von Frank Lüdke, Professor für Kirchengeschichte an der Evangelischen Hochschule Tabor, über die dispensationalistischen Vorstellungen in der frühen Gemeinschaftsbewegung deutlich. Pietismus, Heiligungsbewegung, Dispensationalimus, das alles habe in den Erweckungsbewegungen des 19. Jahrhunderts seinen Niederschlag gefunden.
Im letzten Beitrag erläuterte Dr. Andreas Liese, wie stark dispensationalistische Gedanken zur Selbstvergewisserung der geschlossenen Brüderbewegung beitrugen und auch eine eigene Dynamik entfalteten. Das geschah fast parallel zum aufkommenden Zionismus.
Podiumsdiskussion
In einer Podiumsdiskussion befassten sich Studierende der Hochschulen Friedensau und Elstal mit den Aktivisten der „Letzen Generation“ und die Zukunft der Welt. Dabei herrschte weniger Unsicherheit über die Zukunft, sondern vielmehr „Wut über das, was nicht passiert“. Es wurde Unverständnis über Christen geäussert, die sich ablehnend zum Thema Klimaschutz verhielten. Trotz Unzufriedenheit über Versäumnisse müsse aber auch auf positive Dinge geblickt werden, die bereits erfolgt seien. Es mache sich aber ein Ohnmachtsgefühl breit, dass trotz aller Proteste so wenig erreicht werde. Von ihren Freikirchen wünschten sich die Studierenden, dass sie in ihren Gemeinden ernstgenommen und wertgeschätzt werden. Man solle ihnen helfen eigene Wege zu finden. Sie wünschten sich eine Heimat in ihrer Freikirche und dass diese sich für die Bewahrung von Gottes guter Schöpfung einsetze.
Rückblick und Ausblick
In einem Rück- und Ausblick auf die Tagung erinnerte Dr. theol. Johannes Hartlapp, Dozent für Kirchengeschichte an der Theologischen Hochschule Friedensau, an die berühmten Einleitungsworte aus dem Kommunistischen Manifest von 1848: „Ein Gespenst geht um in Europa“. Doch das Gespenst sei heute nicht mehr der Kommunismus. Heute gehe ein neues Gespenst in Europa um – und das sei eine tiefliegende, zerstörerische Angst vor der Zukunft mit Weltendszenarien, die ihre Anleihen aus dem religiösen Bereich entnommen hätten – bis hin zur „Letzten Generation“. Diese Angst sei heute in allen Bereichen der Gesellschaft angekommen. Und die Freikirchen befänden sich mittendrin und würden teilweise sogar in ihren Gemeinden dazu beitragen, die Angst zu verstärken. Die Angst, die uns heute in so vielen Bereichen begegne, habe den Zukunftsoptimismus vergangener Generationen zu Grabe getragen.
Als 1989/90 die kommunistischen Staaten Europas nach und nach kollabierten meinten viele, jetzt breche eine lang ersehnte weltweite Friedensordnung an. Heute wüssten wir, dass die sogenannte soziale Markwirtschaft als Grundlage der neuen Weltordnung nichts anderes als eine humane Variante des Kapitalismus sei. Das Ziel sei ein immer steigendes Wirtschaftswachstum, mehr produzieren mit Gewinnmaximierung und dauerhafter Wohlstand für alle. Leider habe sich auch diese Idee als eine Sackgasse erwiesen, denn steigendes Wirtschaftswachstum bedeute ein immer grösserer Bedarf an Ressourcen und damit die fortschreitende Zerstörung unserer Welt. „Wir graben und selbst das Wasser ab“, beklagte Hartlapp.
Immer mehr Menschen spürten die Grenzen unseres Wachstums. Die Angst vor dem Verlust des eigenen Lebensstandards sei gross. Es handele sich um die Angst vor der Zukunft. Aber genau an dieser Stelle trete die Botschaft der Bibel: Gott sagt: „Ich will euch geben Zukunft und Hoffnung.“ (Jeremia 29,11b) Deswegen sei laut Hartlapp die Frage der Wiederkunft Christi heute umso brennender.
Der Rektor der Friedensauer Hochschule, Professor Dr. phil. Roland E. Fischer, dankte dem Verein für Freikirchenforschung für die Durchführung der Jahrestagung in Friedensau und bezeichnete sie als „akademischen Höhepunkt“ zum 125-jährigen Jubiläum der Hochschule in diesem Jahr.
Alle in Friedensau gehaltenen Referate können im Jahrbuch des VFF, welches 2025 erscheint, nachgelesen werden.
Verein für Freikirchenforschung (VFF)
1990 gründeten Theologen und Historiker aus verschiedenen Freikirchen den VFF. Initiator war Professor Dr. Robert Walton, seinerzeit Direktor des Seminars für Neue Kirchen- und Theologiegeschichte der Theologischen Fakultät der Universität Münster. Heute hat der Verein Mitglieder aus 27 Denominationen. Fach- und Laienhistoriker aus zwölf Ländern gehören ihm an. 134 Einzelpersonen und 24 Institute arbeiten zusammen, um wissenschaftliches Arbeiten im Rahmen der Freikirchenforschung zu fördern.
Der VFF befasst sich mit theologischen und kirchengeschichtlichen Themen aus freikirchlichen Blickwinkeln. Er fördert wissenschaftliches Arbeiten im Rahmen der Freikirchenforschung. Dazu unterhält der Verein auch eine freikirchliche Fachbibliothek, die ihren Standort an der Theologischen Hochschule in Friedensau bei Magdeburg hat.
Weitere Informationen: www.freikirchenforschung.de.
Theologische Hochschule Friedensau
1899 kaufte die Freikirche der Siebenten-Tags-Adventisten die „Klappermühle“, etwa 35 Kilometer östlich von Magdeburg gelegen, um auf dem Gelände eine „Missions- und Industrieschule“ zu errichten. Der Ort wurde in Friedensau umbenannt und schon im selben Jahr begannen der erste Unterricht und der Baustart für weitere Gebäude. In diesem Jahr feiert die 1990 staatlich anerkannte Theologische Hochschule Friedensau das 125-jährige Jubiläum. In den Fachbereichen Christliches Sozialwesen und Theologie können zehn Bachelor (B.A.)- und Master (M.A.)-Studiengänge, zum Teil berufsbegleitend, online oder in Teilzeit, belegt werden.
Informationen: www.thh-friedensau.de / www.125-Friedensau.de.
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