Die Entscheidung des Landgerichts Köln vom 07.05.2012, in der die Beschneidung eines vierjährigen Knaben auf Veranlassung seiner muslimischen Eltern durch einen Arzt als rechtswidrige Körperverletzung gewertet wurde, hat ein starkes Echo nicht nur in muslimischen und jüdischen Kreisen hervorgerufen.
Das Gericht hatte den Arzt schliesslich freigesprochen mit der Begründung, er habe ohne Schuld gehandelt, weil er wegen der dazu bestehenden unterschiedlichen Auffassungen nicht habe wissen können, dass sein Tun rechtswidrig gewesen sei. Die Eltern eines nicht einwilligungsfähigen Jungen seien nicht berechtigt, aus religiösen Motiven in eine Beschneidung einzuwilligen.
Die Wirkung dieser Entscheidung geht über den Einzelfall hinaus. Ärzte haben bereits angekündigt, keine Beschneidungen aus religiösen Gründen mehr durchzuführen. Werden Muslime und Juden in Deutschland nun in Zukunft ihre jahrhundertealte Beschneidungspraxis ändern müssen? Das Landgericht Köln hat in seiner Entscheidung das grundgesetzlich geschützte Recht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit und auf religiöse Selbstbestimmung überwiegen lassen über die Religionsfreiheit der Eltern und deren Sorge- und Erziehungsrecht. Schon vorher hatte es in der juristischen Literatur Stimmen gegeben, die in eine gleiche Richtung gegangen waren. Von daher überrascht das Urteil aus Köln nicht und die Frage stellt sich, ob religiöse Traditionen, die jahrhundertelang weitgehend unbeanstandet praktiziert wurden, nun auf einmal nicht mehr kompatibel mit den heutigen Menschenrechtsstandards sind. Hier wird es sicher noch Diskussionsbedarf geben.
Festzustehen scheint, dass heutzutage in der Abwägung der betroffenen Rechtsgüter das Individualrecht der einzelnen Person in der Regel einen höheren Stellenwerte erhält, als die Ansprüche und Erwartungen des sozialen Umfeldes, etwa der Eltern oder der Religionsgemeinschaft. Das ist im Prinzip begrüssenswert.
Wenn man die jüdische oder muslimische Beschneidung als einen Aufnahmeritus in die Gemeinschaft der Gläubigen begreift, lohnt sich ein Blick in die christliche Vergangenheit unseres Landes. Noch im 19. Jahrhundert ist es in Deutschland vorgekommen, dass staatliche Behörden eingegriffen haben, wenn christliche Eltern aufgrund ihrer Glaubensüberzeugung die Durchführung einer Kindertaufe abgelehnt haben. Es sind mitunter Zwangstaufen angeordnet worden, um die religiöse und öffentlichen Ordnung wieder herzustellen. Glücklicherweise sind diese Zeiten, in denen die individuelle Entscheidung Einzelner nicht respektiert wurde, Vergangenheit. Jetzt zeigt der Kölner Fall in Richtung des anderen Extrems. Religiöse Aufnahmeriten werden vom Staat strafrechtlich unterbunden, um die Freiheit des Individuums vor den Anforderungen des sozialen und religiösen Umfelds zu schützen.
Das Landgericht Köln hat damit argumentiert, dass irreparable Veränderungen am Körper des einwilligungsunfähigen Kindes vermieden werden sollen, bis der Knabe in der Lage ist, selbst über seine Religionszugehörigkeit zu entscheiden. Den Eltern sei es zuzumuten, diesen Zeitpunkt abzuwarten.
Diese Begründung hört sich modern und aufgeklärt an. Gleichwohl bleibt ein ungutes Gefühl. Ist nicht vielleicht doch der Umstand zu wenig berücksichtigt worden, dass die Aufnahme in eine Religionsgemeinschaft anders erfolgt als der Eintritt in einen Verein? Was sollen Eltern machen, die es als religiöse Verpflichtung begreifen, ihren Jungen – wie etwa im jüdischen Glauben – wenige Tage nach der Geburt beschneiden zu lassen? Kann man ihnen einfach entgegenhalten, sie mögen abwarten bis zur Entscheidungsfähigkeit des Kindes? Es steht zu befürchten, dass das Kölner Urteil zu erheblichen Akzeptanzproblemen führen wird und die betroffenen Eltern die Beschneidungsriten ins Ausland oder in fachunkundige Hände verlegen werden. Damit wäre weder der religiösen Integration noch dem Wohl der betroffenen Kinder gedient.
Dr. Harald Mueller
* Der Jurist Dr. Harald Mueller leitet das Institut für Religionsfreiheit an der Theologischen Hochschule der Freikirche der Siebenten-Tags-Adventisten in Friedensau bei Magdeburg.